Musiker ringen um ihre Existenz. Open Air könnte helfen. Doch dazu ist noch Denkarbeit und guter Wille auf allen Seiten nötig.
Open Air: Abstand genug
Der Klang einer elektrisch verstärkten Gitarre, das kann etwas sehr Befreiendes sein. Das hat nicht zuletzt Jimi Hendrix bei seinem Auftritt auf dem Monterey Pop Festival am 18. Juni 1967 bewiesen. Würde jemand erzählen, er hätte damals einzig durch sein Spiel die Gitarre in Flammen gesetzt, man würde es glatt glauben. Einen ganz ähnlichen Befreiungsschlag, den gab es auch am 8. Mai 2020 in der Münchner Kapuzinerstraße. Er erfolgte durch Dr. Will & The Wizards, die dort zum Auftakt der Reihe »Kulturlieferdienst« auftraten. Das Bedeutende und irgendwie auch Historische daran: Es war die vielleicht erste offiziell genehmigte, öffentliche Rockmusikdarbietung in München seit dem Corona-Lockdown. Und dass einen das Heulen einer Gitarre einmal wieder so berühren könnte, das hätte man, nachdem dem Instrument bereits ein schleichender Tod bescheinigt wurde, wohl selbst kaum noch geglaubt.
Aber nicht nur der Klang einer Gitarre kann befreiend wirken, sondern auch der menschliche Gesang. Auch dafür gab es in München den »live-haftigen« Beweis, und das sogar schon zwei Wochen vorher. Da sang ein von der Sängerin Kathrin Feldmann über Facebook zusammengetrommelter Chor auf dem Odeonsplatz die »Ode an die Freude«, »Thank you for the music« und den Gefangenenchor aus »Nabucco«. Auch das hatte wiederum sein historisches Moment, weil es das erste offi zielle Open-Air-Klassik-Event seit Anfang März in München und vielleicht sogar in Deutschland war. Eine weitere Gemeinsamkeit: Beides fand wegen Corona unter erhöhten Sicherheitsaufl agen statt. Die Zahl der Musiker und Zuschauer war be grenzt, es gab eine Abzäunung mit Flatterband sowie polizeilich überwachte Sicherheitsabstände. Und: Beides waren Konzerte, man musste sie aber »Versammlungen« nennen. Denn diese sind im Gegensatz zu Konzerten erlaubt. Weswegen es auch die dafür geforderten Ansprachen gab und statt Gagen und Eintrittsgeldern Spenden.
Nun kann man fragen: Ist das die Zukunft, dass man Livekonzerte als Versammlungen tarnt, die wegen der Zuschauerbeschränkungen zu exklusiven Spenden-Events werden? »Ich würd’s nicht als Tarnung bezeichnen«, meint dazu Benjamin David von den Urbanauten, die zusammen mit dem Isarlust e.V. hinter dem »Kulturlieferdienst« mit Dr. Will stehen. Denn »das Versammlungsrecht gibt das ohne Weiteres her«. Außerdem, das Streetlife Festival, die Blade Night, die Feiern am 1. Mai: Das alles habe als Versammlung angefangen, bevor man es zur Kultur- oder Sportveranstaltung erklärt hat, »die Grenzen sind da fließend«. Und jetzt, wo man sich ganz bewusst entschieden habe, »erst einmal die Versammlungen zu liberalisieren: Da wundert’s mich eigentlich nicht, dass man als, sagen wir mal kritisch denkender Kulturschaffender, auf solche Ideen kommt«, erklärt der Urbanaut, den man in München unter anderem als Initiator des Kulturstrands kennt. Also alles ganz normal? Okay, die Genehmigung zu bekommen, das sei »schon ein besonderer Zusatzaufwand« gewesen und »wie ich mitgekriegt habe, wurde das auch intensiv verhandelt zwischen Kreisverwaltungsreferat und Innenministerium«.
Und vor Ort per Mikrofon die Verhaltensregeln zu kommunizieren, auch das, gibt David zu, war gar nicht so einfach. Aber sonst? Sei das »kein Hexenwerk«. Im Gegenteil hatte er »das Gefühl, dass die im Kreisverwaltungsreferat sich total gefreut haben, dass da quasi ein Profi des Versammlungs- und Veranstaltungsrechts anruft«. Und man dürfe nicht vergessen, dass sich auch »für die Leute in der Stadtverwaltung täglich oder sogar stündlich die Rechtslage« ändert. Genau das biete aber auch Chancen. So spekuliert David etwa darauf, dass die nachweisbare Abnahme des Autoverkehrs die für die sogar täglich geplanten »Kulturbringer«-Aktionen nötigen Straßensperrungen erleichtert. Und dann könnte es ja sein, dass die Staats regierung bald Versammlungen bis 500 Leute ermöglicht. Oder Veranstaltungen mit 50 Leuten im Freien, »das ist ja eigentlich nur logisch«.
»Ein bisschen Verhandlungen«, die waren, erzählt Kathrin Feldmann, auch für ihre insgesamt drei unter frischesicht.de dokumentierten Aktionen auf dem Odeonsplatz nötig. Ansonsten habe aber auch sie »eine gute Zusammenarbeit mit dem Kreisverwaltungsreferat« erlebt. Genauso habe mit den bestellten Ordnern alles gut geklappt und die Polizei sei sogar »erfreut« gewesen: »Die haben uns gelassen, uns gedankt.« Trotzdem. Dass sie ihre durchaus politisch gemeinten Konzerte nur als »Versammlung« machen durfte und man als Profi musiker nur noch für Spenden spielen darf, das ist für die Sängerin und Musiktherapeutin »eine furchtbare Farce«. Und dass nicht mal Straßenmusik stattfinden darf, »obwohl die Biergärten wieder öffnen«, sei »eigentlich skandalös«. Das wieder zu genehmigen, wäre doch ganz einfach und »würde ganz viele soloselbstständige Musiker« retten. Auch die Philharmonie könne man wieder öffnen, da sei »so viel Abstand möglich«. Aber für all das fehle es an Priorität, Bewusstheit und Augenmaß.
Tatsächlich haben mit Sängern und Bläsern durchgeführte Studien der Berliner Charité, der Universität der Bundeswehr München und des Freiburger Instituts für Musikermedizin gezeigt: Proben und Konzerte sind unter Corona möglich. Und eine »Handlungsempfehlung« des Berliner Research Institute for Exhibition and Live-Communication zur »Veranstaltungssicherheit im Kontext von Covid-19« (Download) zeigt auf zehn Seiten auf, wie »eine Risikoeindämmung für alle involvierten Personen« auch in Hallen funktioniert. Maßnahmen wie Immunitätsnachweise, manipulationssichere Teilnehmerlisten, Besucherstrommanagement klingen nicht unbedingt nach Rock ’n’ Roll. Und wenn man sieht, wie sich bei einem Sitzkonzert die Besucherzahl durch die Abstandsregeln von 442 auf 96 verringert, ahnt man: Auch das wird nicht ohne staatliche Hilfen gehen. Aber: Die Lösungsvorschläge, sie sind da. Um sie auch umzusetzen, wird es, so Kathrin Feldmann, Zeit, dass sich die Politiker, aber auch Künstler endlich aus ihrer Schockstarre, ihrer Lethargie lösen. Und das dafür beste Mittel kennt sie als Therapeutin ebenfalls: Musik. ||
#kulturlieferdienst (Facebook und Isarlust)
Der erste »Kulturlieferdienst« der Welt liefert seit 26.5. bis auf weiteres an sieben Tagen in der Woche im gesamten Münchner Stadtgebiet jeweils von 18.00 Uhr bis 19.00 Uhr Kunst und Kultur auf hierfür eigens geöffnete Münchner Autostraßen. Kulturgenuss trifft auf Verkehrswende! Künstler*innen und Anwohner*innen, die selbst auftreten wollen oder ihre Autostraße vor der Haustür als »temporäre Konzerthalle« vorschlagen wollen, schicken bitte eine E-Mail an:
Künstler*innen: juergen.reiter@orkaan.com | Anwohner*innen mit Ortsvorschlägen: benjamin.david@isarlust.org
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