Die Coronakrise sorgt dafür, dass Menschen allein sterben müssen. Doch was geschieht normalerweise mit Menschen, die vereinsamt sterben? Und: Wie haben sie gelebt? Mit diesen Fragen befasst sich die Schauspielerin, Regisseurin und Radioautorin Gesche Piening.
Gesche Piening: Trauerfeier ohne Trauernde
Manchmal liest man solche Fälle in der Zeitung, wenn etwa eine Leiche besonders lange unbemerkt in einer Wohnung gelegen hat. Dann sind wir kurz erschrocken, dass dies mitten unter uns passieren kann. Doch kaum einer fragt ernsthaft nach, was nun mit den Toten geschieht und wie es so weit kommen konnte. Gesche Piening hat nachgefragt. Sie hat sich mit jenen unterhalten, die sich professionell um Tote kümmern, um die sich sonst keiner sorgt. Sie hat unzählige »Bestattungen von Amts wegen« besucht, die die Behörden organisieren, wenn sich keine »bestattungspflichtigen« Angehörigen finden lassen. Eigentlich sollte ihr Theaterprojekt »Requiem für Verschwundene« im Juni im HochX Premiere feiern, das ist nun unmöglich. Die im Vorfeld anberaumte Ursendung ihres Hörspiels »Einsam stirbt öfter – Ein Requiem« aber musste sie glücklicherweise nicht verschieben. Seit zwei Jahren beschäftigt Gesche Piening sich mit dem Thema. Aufmerksam wurde sie darauf durch das Buch der Berliner Kulturanthropologin Francis Seeck »Recht auf Trauer. Bestattungen aus machtkritischer Perspektive«. Noch bis vor Kurzem sahen sie Menschen befremdet an, wenn sie ihnen erzählte, woran sie arbeitet. Das, erklärt sie, habe sich inzwischen geändert. »Die Offenheit, sich darauf emotional einzulassen, ist viel größer.« Die schrecklichen Bilder aus Italien von in Sälen aufgereihten, fern von vertrauten Gesichtern Sterbenden haben uns alle schockiert und aufgewühlt.
Das alltägliche einsame Leben und Sterben in Deutschland nehmen wir gemeinhin nicht wahr. Jährlich werden in München rund 600 Menschen von Amts wegen bestattet. Im Gegensatz zu Städten wie Berlin gibt es hier keine Sammelbeerdigungen in anonymen Gräbern. Durch die Coronakrise, glaubt Piening, sei der einsame Tod plötzlich näher an uns herangerückt, den wir sonst weit von uns wegschieben, weil die Vorstellung so verstörend und beängstigend ist. So etwas, denken viele, passiert nur sozialen Außenseitern, Obdachlosen, Abgestürzten oder altenLeuten mit einer brutal herzlosen Verwandtschaft. Das sei ein Irrtum, erklärte ihr eine erfahrene Todesermittlerin der Polizei: »Der einsame Tod kann jeden treffen.«
Sicherlich gibt es Risikofaktoren, sich wiederholende Muster: Arbeitslosigkeit und Abrutschen in die Armut, psychische Krankheiten, die Kontakte behindern, alle Arten von Suchtkrankheiten, von Streit und Gewalt geprägte Familienbiografien. »Meist war es eine Kombination aus Schicksalsschlägen«, so Piening, »durch die Menschen sozial gestorben sind, bevor sie physisch sterben.« Doch der abschiedslose Tod trifft auch Menschen, die lange sozial eingebunden waren und erst im Alter, meist nach Todesfällen um sie herum, völlig vereinsamten. So hat sie etwa von der amtlichen Bestattung eines ehemaligen Professors erfahren, und eine Pastoralreferentin erzählte ihr, sie habe erst im Nachhinein gehört, dass eine ihrer Verwandten auf diese Weise beerdigt worden war.
»Einsam stirbt öfter« präsentiert sehr unterschiedliche Geschichten, die in eine Rahmenhandlung eingebettet sind um zwei Nachbarn in einem Mietshaus, die nebeneinander wohnen und dennoch in völlig getrennten Welten leben. Natürlich erzählt Pienings Hörspiel auch viel über unsere Gesellschaft und rührt nicht zuletzt indirekt an ein zentrales Thema ihrer Produktionen: die Arbeitsverhältnisse, der Leistungsdruck und das Menschenbild in der kapitalistischen Marktwirtschaft. Damit hat sich die Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Dozentin immer wieder auseinandergesetzt, von ihrem Regiedebüt »Lohn und Brot« über die Wanderausstellung zur Prekarisierung freier Künstler »brenne und sei dankbar« bis zu dem »professionellen Optimierungsguide« in der Villa Stuck »Was wollt ihr werden?«. Für ihre interdisziplinären Arbeiten wurde Gesche Piening mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ödön-von-Horváth-Förderpreis.
Die Recherche für ihr jüngstes Projekt hat ihren Blick auf Trauerrituale verändert. Die Verlogenheit von Grabreden und Leichenschmaus gelagen hat viele Autoren zu bösen Satiren gereizt. Früher, so Piening, fand sie selbst den Ablauf von Beerdigungen befremdend. »Heute denke ich: Was für ein Glück, dass es gemeinsame Rituale, Rückhalt durch gemeinsames Trauern gibt.« Manchmal tauchen bei einer Bestattung von Amts wegen dann doch noch frühere Bekannte auf, die die Nachricht zufällig in der Zeitung lasen, oder ein Nachbar, der den Toten vom Sehen kannte. Oftmals aber kam niemand, war Gesche Piening die Einzige, die hinter der Urne zum Grab ging. »Es hat etwas wahnsinnig Trauriges, wenn ein Leben so endet, keiner um den Verstorbenen trauert, nur ein Friedhofsbestatter auf einen Knopf drückt und ein Musikstück vom Band läuft.«
Die ursprünglich geplante Theateraufführung wird sie nun im Herbst umwandeln in eine Installation im öffentlichen Raum, bei der jeweils ein einzelner Besucher mit den Geschichten sozial isolierter Menschen in München konfrontiert wird. Und vielleicht, meint sie, werde ja in dieser Form deren Einsamkeit noch intensiver spürbar. ||
EINSAM STIRBT ÖFTER – EIN REQUIEM
BAYERN 2 | 12. Juni | 21.05–22.30 Uhr
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