Unter neuer Festivalleitung startet am 20. Februar die 70. Berlinale. Auch eine Reihe Münchner Filmemacher präsentiert ihre neuesten Arbeiten.
Noch ist es ruhig am neblig-grauen Potsdamer Platz in Berlin. Doch wenn am 20. Februar die Jagd nach dem Goldenen Bären unter dem Juryvorsitz von Jeremy Irons offiziell beginnt, wird einiges anders sein als in der überlangen Dieter-Kosslick-Ära (2001–2019), die das traditionsreiche A-Festival zuletzt ordentlich ins Schlingern brachte. Natürlich steht die frische Doppelspitze um Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin und ihren künstlerischen Direktor Carlo Chatrian (»Wir sind nicht die Fashion Week«) erst einmal für einen Neuanfang, wenngleich die beiden den großen Reset-Button bisher (noch) nicht gedrückt haben. Und so markiert die 70. Ausgabe des wichtigsten deutschen Filmfestivals eher einen sanften Übergang. Neben der Suche nach neuen Großsponsoren und Ersatzspielorten für weggefallene Hauptspielstätten wie dem Cinestar musste gerade im Hinblick auf die gefühlten zwei Dutzend Programmsektionen zusätzlich dringend der Rotstift gezückt werden.
Nach der Abschaffung der »Außer Konkurrenz«-Regelung im Wettbewerb sowie des »kulinarischen Kinos« und der Reihe »NATIVe«, soll die internationale Filmpresse nach den Wünschen Chatrians ihr Hauptaugenmerk zwingend gen »Encounters« richten. In dieser neuartigen Sektion, die ähnlich wie »Orrizonti« in Venedig oder »Un certain Regard« in Cannes ästhetisch und strukturell besonders kühnen Filmen unabhängiger, innovativer Filmemacher eine Plattform bieten soll, wird beispielsweise die jüngste Arbeit eines Urgesteins des Neuen Deutschen Films zu sehen sein: Alexander Kluge, der sich nach »Happy Lamento« erneut mit dem philippinischen Film-Punk-Auteur Khavn de la Cruz künstlerisch verbrüdert hat und dort »Orphea«, eine avancierte Art »Stummfilm über die Oper« (Kluge) mit Lilith Stangenberg und Ian Madrigal, als Weltpremiere präsentiert. Obendrein wird Kluges experimentelle Zukunftsfantasie »Der große Verhau« (1971) noch einmal im Rahmen des »Forum und Forum Expanded«-Jubiläumsprogramms zu sehen sein.
Daneben zeigt die Berlinale bereits ab dem 11. Februar in den Foyers der Volksbühne die Ausstellung »Das Theater des Kinos« mit Installationen (u. a. von Jonathan Meese) sowie Interviews mit Berlinale-Protagonist*innen, wozu ebenfalls Alexander Kluge mit Performances und Filmen zur Eröffnunglädt. Überhaupt setzt die neue Berlinale-Leitung auf deutlich mehr Kooperation mit weiteren Berliner Museen, Ausstellungsräumen und Veranstaltungsorten. So wird zum Beispiel im Zuge des »On Transmission« genannten Jubiläumsprogramms in der alten Akademie der Künste die 4K-Restaurierung von Margarethe von Trottas »Heller Wahn« (1982) mit Hanna Schygulla und Angela Winkler in den Hauptrollen ihre Uraufführung feiern: plus anschließendem Talk mit Ina Weisse, deren Film »Der Architekt« (2008) mit dem bayerischen Schauspielerurviech Sepp Bierbichler im Gegenzug gezeigt wird.
Ob es außerdem Dominik Grafs mit Spannung erwartete »Fabian«-Adaption nach Erich Kästner irgendwie ins BerlinaleProgramm schafft, steht bei Redaktionsschluss ebenso wenig fest wie die Uraufführung von Oskar Roehlers BR-Koproduktion »Enfant Terrible« über das manische Schaffen des legendären Regieberserkers Rainer Werner Fassbinder, den Oliver Masucci ausschließlich in einer Studiokulisse verkörpert. Selbiges gilt für Christian Petzolds »Undine« mit Paula Beer und Franz Rogowski sowie für Bettina Böhlers Hommage an Christoph Schlingensief (»Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien«) oder die bereits abgedrehten und neuen Filme von Leos Carax (»Annette«), Abel Ferrara (»Siberia«) oder Werner Herzog, die zum Teil in Deutschland und mit deutschen Fördergeldern realisiert wurden. Denn auch das ist neu bei der Berlinale: Das vollständige Programm der Sektionen »Wettbewerb«, »Forum« und »Panorama« wird noch später als sonst veröffentlicht.
Was aus münchnerischer bzw. bayerischer Sicht hingegen schon feststeht, sind die neuen Arbeiten der HFF-München-Gewächse Jonas Heldt (»Automotive«) und Janna Ji Wonders (»Walchensee Forever«). Während Heldt im erstgenannten Film in dokumentarischer Form die komplexen Zusammenhänge und Risiken der Arbeitswelt 3.0 anhand eines Arbeiters (Sedanur) und einer Headhunterin (Eva) diskursiv erörtert, erzählt die gebürtige Kalifornierin Wonders, die am Walchensee aufwuchs, in ihrem Langfilmdebüt die Geschichte der Frauen ihrer Familie, zwischen Oberbayernidylle, »Summerof-Love«-Utopien und Rainer Langhans’ hippieeskem Harem. Zudem läuft Friederike Güssefelds »First Steps«-AwardGewinnerfilm »Out of Place« über drei jugendliche Systemsprenger, der schon beim DOK.fest München reüssierte, als Abschlussfilm der Reihe »Perspektive Deutsches Kino«.
Besonders gespannt sein darf man außerdem auf Uisenma Borchus zweiten semibiografischen Film nach »Schau mich nicht so an« (2015): »Schwarze Milch«, wiederum mit Franz Rogowski, hat es ins »Panorama« geschafft. Darin sucht eine junge Frau nach ihren Wurzeln und findet dabei eine eigenwillig-radikale Sinnlichkeit, die sowohl mongolische wie vermeintlich freiere Konventionen aus dem Westen durchbricht. Mit Byambasuren Davaa (»Die Geschichte vom weinenden Kamel«) hat außerdem noch eine weitere HFF München-Absolventin den Sprung ins Berlinale-Programm geschafft: Ihr Film »Veins of the World« wird in der Sektion »Generation Kplus« uraufgeführt, was wiederum beweist, dass deutsche Filmfestivalproduktionen wie schon in vergangenen Jahrgängen mehrheitlich von Alumni der HFF München stammen.
Wahrscheinlich wird sich diese 70. Berlinale am Ende irgendwo zwischen den Gedankensplittern des früh verstorbenen Schriftstellers Henryk Berkowitz bewegen: Sprich zwischen »sich treu bleiben«, »sich verloren gehen« und hoffentlich auch »sich sonnen fahren«. Damit auch das Renommee des »Goldenen Bären« bald wieder hell erstrahlt und nicht nur seine goldglänzende Oberfläche. ||
INTERNATIONALE FILMFESTSPIELE BERLIN
20. Februar bis 1. März| an verschiedenen Spielorten in Berlin
Programm
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