Ewald Palmetshofers Hauptmann-Überschreibung »Vor Sonnenaufgang« punktet beim menschlichen Drama.
Hier kann sich niemand wirklich zu Hause fühlen. Immer wieder tritt einer heraus aus dem kargen, kalt ausgeleuchteten Raum, stiehlt sich nach draußen ins Halbdunkel, um eine Zigarette zu rauchen, für sich zu sein. Ewald Palmetshofers Umschreibung von Gerhart Hauptmanns Sozialdrama, dessen Uraufführung 1889 als Geburtsstunde des naturalistischen Theaters gilt, spielt nicht unter reich gewordenen Bauern, sondern unter heutigen Wohlstandsbürgern.
Glücklich ist keiner von ihnen. Nora Schlocker lässt sich in ihrer fein geschliffenen Inszenierung viel Zeit, um mit ihrem starken Ensemble psychologisch präzise die Ängste, Frustrationen, den mühsam gezügelten Zorn in einer vom Zerfall bedrohten Familie vorzuführen. Das Wechselspiel zwischen unterschwelligen und offen aufbrechenden Feindseligkeiten entwickelt bissig zugespitzten boulevardesken Witz, nie aber macht sie sich über die Figuren lustig.
Cathrin Störmer als despotisch tüchtige Annemarie will die Familie zusammen- und die Fassade aufrechterhalten, kommandiert ihren polternden Mann (Steffen Höld) herum, allein, sie kann seine desaströsen Sauftouren nicht verhindern. Die schwangere Tochter Martha (Myriam Schröder), die vom »schwarzen Hund« Depression verfolgt wird, wehrt sich grimmig offensiv gegen die entmündigende familiäre Fürsorglichkeit und nutzt ihren dicken Bauch, um sich unangreifbar zu machen. Ihre Schwester Helene (Pia Händler), die gekommen ist, um ihr beizustehen, doch auch weil sie dringend Geld braucht, versucht schnippisch scharfzüngig den familiären Querelen zu trotzen.
Nicht einen Moment lang zeigt Marthas Mann Thomas (schön changierend zwischen softiehaftem Gatten und Aggressivität: Michael Wächter) freudige Überraschung, als ein Freund aus Studententagen bei ihm auftaucht. Das Wiedersehen ist von Beginn an vergiftet, überschattet von Argwohn: Da will ihm jemand etwas anhängen, glaubt er, ihn ausspionieren, seine Karriere gefährden. Während der Journalist Alfred (Simon Zagermann) für ein linkes Wochenblatt schreibt, hat Thomas die Firma seines Schwiegervaters übernommen, kandidiert für eine rechtspopulistische Partei und spielt sich dabei als Sprecher der »kleinen Leute« auf. Dem zentralen Disput der beiden jedoch fehlt es an Härte und Wucht. Die Spaltung der Gesellschaft, die da beschworen wird, bleibt zu schwach akzentuiert, ist in der Realität weit scharfkantiger. So erschließt sich Palmetshofers Motivation, Hauptmanns Sozialstück in die Gegenwart zu verlegen, letztlich nicht so recht. Nach der Pause aber, wenn sich die menschlichen Dramen zuspitzen, gewinnt der Abend an Kraft und Eindringlichkeit.
Helenes Hoffnung auf einen gemeinsamen Neuanfang mit Alfred zerschlägt sich. Der Hausarzt (Thiemo Strutzenberger) philosophiert desillusioniert über die Enttäuschungen des Lebens und den Tod, derweil Martha ihr Kind verliert und sich in ein blutbeflecktes, schreiendes Bündel aus Schmerz und Verzweiflung verwandelt. Am Ende sehen alle stumm und hilflos zu, wie sie in die Klinik abgeführt wird. ||
VOR SONNENAUFGANG
Residenztheater| 16. Jan., 27. Feb.| 19.30 Uhr
Tickets: 089 21851940
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