»Lulu« und »Die Räuberinnen«: Residenztheater und Kammerspiele machen Frauenabende aus Männerstücken. Beim ersten triumphieren die Bilder, beim zweiten Spiel und Spaß.
Bei Leonie Böhm in der Kammer 1 sollte man sie an der Garderobe abgeben. Im Marstall macht sie Bastian Kraft auf der Bühne zum Thema. Die Rede ist von Zuschauererwartungen. Und die sind ja sowieso schon auf Unterschiedlichstes hin ausgerichtet, je nachdem, ob auf dem Spielplan »Die Räuberinnen« nach Schiller steht oder Wedekinds tödliches Kindfraudrama »Lulu«.
Beide Aufführungen hatten in München binnen weniger Tage Premiere. In beiden stehen ausschließlich Frauen auf der Bühne. Und hier wie dort geht es um Zuschreibungen und wie man sich ihrer entledigt. Damit haben sich die Gemeinsamkeiten allerdings schon. Weil Kraft macht, was Kraft kann und Böhm macht, was Böhm kann, sieht man im Marstall ein technisch raffiniertes, mehr oder weniger am Originaltext entlang balancierendes Bilderspektakel und in der Kammer 1 eine Schauspielerinnenentfesselung, die sich um ihren Schiller nicht schert. Doch zurück auf Anfang. Liliane Amuat, Juliane Köhler und Charlotte Schwab sind Lulu. Und sie unterlaufen das Bild, das man(n) sich von der männermordenden Schönen macht, bereits durch ihren Look. In schwarzen Anzügen über Highheels (immerhin), das Haar streng zurückgekämmt, adressiert das Trio das Publikum: »Ich werde mich heute nicht ausziehen«, warnt uns die Jüngste. Die Zweite droht damit, heute nicht vor uns auf die Knie zu gehen und die Älteste verweigert das Sterben.
Wedekinds »Monstretragödie« hatte die Sexualmoral des wilhelminischen Bürgertums im Sinn, nicht ohne die »Schlange« Lulu in exotischen Farben zu malen. Kraft erinnert daran, dass unser monströser Blick sie mitgestaltet und gibt uns was zu gucken, aber anders. Nackte Haut, lechzende Lippen, selbst gloriose Liebestode: Fehlanzeige! Diese Lulus wollen nicht länger Projektionsfläche für Männerfantasien sein, sondern nehmen die Bilderproduktion selbst in die Hand. Mit der Handlung probieren sie es auch, kommen beim Debattieren über ihren Fortgang aber faderweise stets genau auf das, was auch im Originaltext anstünde. Wirkliche Überraschungen finden nur auf der Projektionsfläche hinter den Schauspielerinnen statt, wo ihre eigenen, live entstehenden Schatten mehr und mehr mit vorproduzierten Schattengestalten interagieren. Der alte Goll, Dr. Schön, der junge Alwa: Alle Männerfiguren werden von diesen drei Frauen verkörpert, was in einem fulminanten Travestie-Showdown kulminiert: Hier begegnet man auf der zu neun Hochkantbildern auseinandergefahrenen Rückwand dem muskelbepackten Rodrigo, dem altersfleckigen Schigolch oder dem Schwyzerdütsch sprechenden Schulbub Hugenberg in Farbe und möchte außer den in ihnen kaum noch zu erkennenden Schauspielerinnen der gesamten Maskenbildabteilung des Resi Dank sagen für dieses Wiederauferstehungsfest der guten alten Verwandlungskunst. Inhaltlich kommt es allerdings über die witzige Satire nicht hinaus. Und auch über Lulu fördert der weibliche (von einem Männerteam begleitete) Blick wenig Neues zutage. Lediglich, dass sie zuletzt ihrem Tod durch Jack the Ripper ein entschiedenes »Nein« entgegenschmettert, kann mit einigem Wohlwollen als Selbstbefreiungsversuch durchgehen.
Verglichen damit veranstaltet Leonie Böhm mit einem reinen Frauenteam eine wahre Befreiungsorgie. Zunächst vom Stück selbst, denn außer den Rollennamen Karl, Franz, Amalia und Spiegelberg ist von Schillers »Räubern« wenig geblieben. Das Junge-Frauen-Quartett, das unter einer mitfühlenden, aber parteiischen Wolke in Hirnform (Bühne: Zahava Rodrigo) auf den Trümmern des Familienzwists surft, der dem Originaldrama zugrunde liegt, verhandelt nur das, was ihm heute und ganz persönlich etwas sagt. Das sind vor allem Verletzungen oder die Last der Erwartungen, die andere in einen setzen. Und interessanterweise macht das auf großartige Weise Spaß und Sinn. Weil so, wie Gro Swantje Kohlhof, Sophie Krauss, Eva Löbau und Julia Riedler gemeinsam mit der Musikerin Friederike Ernst von Schnipo Schranke die Bühne erobern, alles wirkt wie gerade im Moment gedacht und empfunden. Diese vier erfinden sich in jedem Moment selbst.
Ob sie plüschige Mädchenlieder singen oder am Ende mit ihren nackten Brüsten ein Glockenspiel intonieren. (Was seltsamerweise gar nicht seltsam wirkt.) Verrat und die ganzen Toten: Braucht der Abend nicht! Stattdessen zeigen uns vier Frauen die Schwächen ihrer (Männer-)Figuren, ihre Sehnsucht nach Nähe und ihre eigene Zauberkraft, die die des Spiels ist. Löbau erfindet eine herrliche Geschichte mit Trekkingsandalen und seltenen körperlichen Defekten, um das Nichtgesehenwerden des ungeliebten MoorSohns Franz plastisch zu machen. Riedler enthüllt Karls schillernde Smartheit als fragiles narzisstisches Konstrukt. Die brave Amalie ist bei Krauss herrlich bollerig, und Kohlhof spricht, ruft, schreit und jubelt ihrer Räuberinnenbande vom Parkett aus Mut zu. Bis die bei Schiller Vereinzelten am Ende alle zusammen über die nasse Bühne in die ersten Parkettreihen schlittern. Eine nasse und krasse Utopie! ||
LULU
Residenztheater| bis 30. Jan. ausverkauft, 3., 7., 11., 13., 17., 20. Feb.| Tickets: 089 21851940
DIE RÄUBERINNEN
Kammer 1| 11. Jan., 6. Feb.| 20 Uhr | 28. Feb.| 20.30 Uhr
Tickets: 089 23396600
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