Arno Friedrich betont Skurrilität, Dada und Punkrock in »Victor oder Die Kinder an der Macht«.

Eine schreckliche Familie (Sarah Schuchardt, Alexander Wagner, Peter Papakostidis v. l.) © Volker Derlath

Dieses Kind ist ein Albtraum. Der »schrecklich intelligente«, allseits gehätschelte Victor treibt in Roger Vitracs schwarzer Komödie nicht nur seine Eltern, die zur Feier seines neunten Geburtstages Gäste geladen haben, zur Verzweiflung. Dabei beteuert sein Vater (Peter Papakostidis), der gern mit seiner linksliberalen Gesinnung prahlt, wie furchtbar stolz er auf seinen Sohn sei. Unerbittlich entlarvt Victor im Verlauf des Festes die Affäre zwischen seinem Papa und der Mutter (Melda Hazirci) seiner Freundin Esther (Verena Richter). Mit gezielter Perfidie provoziert er Esthers kriegstraumatisierten Vater (Rainer Haustein), der bei der Erwähnung von Marschall Bazaine in Erinnerung an die Kapitulation der französischen Armee 1870 zuverlässig durchdreht. Er demütigt den sich »großer Taten für Gott und Vaterland« rühmenden General (Neil Vaggers) und schockiert alle mit dem frei erfundenen Geständnis eines Splattermordes.

Das schreckliche Kind ist natürlich nicht schrecklicher als die Erwachsenen. Krampfhaft versuchen sie die Fassaden ihres verlogenen Lebens aufrechtzuerhalten, vor deren Trümmern sie schließlich stehen. »Es gibt in diesem Stück einen Willen nach furchtbarer Wahrheit, nach grausamem Licht, das bis in die schmutzigsten Niederungen des menschlichen Unterbewusstseins hineingetragen wird«, schrieb Antonin Artaud, der Regisseur der Uraufführung 1928. Die einst skandalösen Tabubrüche des Textes, seine Attacken auf den Militarismus und die bourgeoise Bigotterie haben heute ihre Sprengkraft verloren, daran können auch die eingestreuten Aktualisierungen nichts ändern. Dennoch gelingt Arno Friedrich ein faszinierender Theaterabend. Seine Inszenierung betont nicht das boulevardeske Potenzial des an Dialogwitz reichen Stückes, sondern unterstreicht dessen surrealistische und groteske Züge. Das Enfant terrible (Alexander Wagner) trägt einen großen Rattenkopf mit gelblichen Nagezähnen. Das lustvoll artifiziell aufspielende Ensemble entfaltet einen Reigen skurriler Bilder und Szenen, die von musikalischen Einlagen mit Saxofon, Ukulele und Schlagzeug aufgelockert werden. Der General punkrockt mit Victor und krächzt unter der Discokugel »What a Wonderful World«. Selbstverständlich darf hier auch gelacht werden, wenn etwa Esther herrliche Dada-Poesie vorträgt, eine in einen opulenten Umhang gehüllte Dame hereinplatzt, die unter unkontrollierbaren Flatulenzen leidet oder wenn Victors Papa Maman (Sarah Schuchardt), die pantomimisch diverseGattenmordversionen testet, mit Liebesschmalz besänftigen will.

Eine wirkliche Machtübernahme der Kinder findet nicht statt, und man kann es sich auch nicht wünschen. Victor triumphiert zwar als Zerstörer der Ordnung, stirbt jedoch unter Bauchkrämpfen. Überhaupt gibt es am Ende viele Leichen. Zum fantastischen Ausklang des Abends starren uns auf einer Leinwand die schwarz klaffenden Augenhöhlen eines perlenohrenberingten Totenschädels entgegen, der seinen zahnluckigen Mund öffnet und gruselig munter singt: »Welcome to My World.« ||

VICTOR ODER DIE KINDER AN DER MACHT
Theater Viel Lärm um Nichts| Pasinger Fabrik
bis 30. Nov.| Do bis Sa 20 Uhr | Tickets: 089 82929079

 


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