Nora Schlocker eröffnet mit der Uraufführung von Ewald Palmetshofers »Die Verlorenen« die erste Spielzeit von Andreas Beck am Residenztheater.
»Ist wer / ist wer da?« rufen sie. Zehn Schauspieler kommen uns aus dem sich schräg nach oben verjüngenden Bühnenkasten entgegen und stehen schließlich aufgereiht vor uns. Mal einzeln, mal chorisch tragen sie den düsteren Prolog von Ewald Palmetshofers neuem Stück vor. Nein, da ist niemand. »Kein Drüben, Draußen, Droben / Jenseits nicht / kein Ausgang.« Sie müssen sich und einander schon selbst helfen, und das gelingt ihnen schlecht.
Auf der leeren, gleißend weißen Bühne (Irina Schicketanz) lässt die neue Hausregisseurin Nora Schlocker Palmetshofers Szenen über das alltägliche menschliche Scheitern ineinanderfließen. Clara erklärt ihrem Ex-Mann und seiner Frau, dass sie ihren Sohn Florentin eine Weile nicht zu sich nehmen kann. Sie braucht eine Auszeit und flüchtet sich ins Haus ihrer toten Großmutter, in das sich der junge obdachlose Kevin eingenistet hat. An einer Tankstelle hängen prekäre Existenzen (klasse: Steffen Höld, Max Mayer) herum, begegnet uns der alte Wolf, der sich selbst wie ein schlafloses Kind nachts herumfährt, und eine Hirschkuh, von deren Blick er sich bedroht fühlte, absichtlich überrollt hat. In von schönem lakonischen Wortwitz durchsetzten Geschichten um Verlierer und Verlorene zeigen sich grollvergiftete Beziehungen und brüchige Familienbindungen, scheint eine Fülle an gesellschaftlichen Themen auf.
Nora Schlockers behutsame und sensible Inszenierung gibt Palmetshofers kunstvoll verfremdeter und rhythmisierter Sprache Raum nachzuklingen. Der österreichische Dramatiker ist primär ein Sprachkünstler. Seinen Ellipsen und syntaktischen Umstellungen haftet mitunter allerdings auch etwas Manieriertes an. Nicht immer erschließt sich deren poetische Notwendigkeit.
Das einzige Requisit in der minimalistischen Aufführung ist ein Holzkreuz. Sicherlich wäre es grundfalsch, dieses nicht klischeefreie Stück naturalistisch zu bebildern. Aber man fragt sich irgendwann, ob es nicht doch klüger gewesen wäre, den Figuren stellenweise ein bisschen mehr Verankerung in der Realität zu erlauben. So bleiben die Spielmöglichkeiten der Schauspieler sehr beschränkt.
Dennoch darf man sich über ein starkes Ensemble freuen mit alten Bekannten wie Sibylle Canonica und neuen Gesichtern wie Myriam Schröder als sich stachlig panzernde Clara, Florian von Manteuffel als ihr ignoranter Ex-Mann, der seinen Sohn, just da er Probleme macht, zur Mutter abschiebt, Pia Händler als dessen frustriert bissige Frau und Johannes Nussbaum als liebenswerter Außenseiter Kevin.
Als Florentin (toll: Francesco Wenz) wegen eines brutalen Videos von der Schule suspendiert wird, eskaliert die Handlung. Zu viel aber soll hier nicht verraten werden. Am Schluss hängt an der Wand anstelle des Kreuzes der aufgespießte, blutende Körper eines Menschen. Natürlich sind die existenziellen Fragen, die der Abend aufwirft, nicht neu, doch der Dringlichkeit und packenden Wucht, mit der Palmetshofer sie stellt, kann man sich nicht entziehen. Das Publikum bedankte sich am Ende mit langem, heftigem Applaus. ||
DIE VERLORENEN
Residenztheater| 2. Nov. | 18.30 Uhr | 6., 13., 15., 23. Nov., 27. Dez.| 19 Uhr | 10. Nov.| 18 Uhr | 15. Dez.| 15 Uhr
Tickets: 089 21851940
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