Spielart 2019 bietet einen traurigen Abschied, ein Wiedersehen mit alten Freunden und blickt geografisch und kulturell über den Tellerrand.
Als ich zum 10. Spielart-Jubiläum ein Interview mit Tilmann Broszat machte, schickte der Auftraggeber mich zurück an den Schreibtisch, um mehr Stolz auf das Geleistete aus ihm herauszukitzeln. Und fragte: »Kann der sich vielleicht mal selber loben?« Nein, kann er nicht! Der Erfinder des Münchner Festivals, das seit 1995 alle zwei Jahre neue Spielarten der Bühnenkunst aus aller Welt an die Isar holt und Namen wie Gob Squad, She She Pop, Romeo Castellucci oder Lola Arias erst bekannt gemacht hat, ist die Bescheidenheit in Person. Allenfalls gönnt er sich selbst ein Mikro-Schulterklopfen als Nachklapp zu ultraseriösen Sätzen wie: »Ja, wir haben unsere Koproduktionsanstrengungen vergrößert, weil in anderen Ländern die Förderungsmöglichkeiten noch viel kräftiger abgenommen haben als hierzulande. Wir sind als Festival international inzwischen so etabliert, dass wir uns in der Verantwortung sehen.« Stolz ist Tilmann Broszat allenfalls auf das stets neugierige Publikum und auf Errungenschaften hinter den Kulissen des Festivalbetriebs, wo Spielart unter Broszat ganze neue Künstler- und Kuratorengenerationen anschob.
Wie er gemeinsam mit seinem langjährigen Festival-Co-Leiter Gottfried Hattinger fast schüchtern am Rande des Geschehens herumstand, war das vielleicht größte Aha-Erlebnis meiner Spielart-Initiation Ende der Neunziger. 2001 war es »Kanal Kirchner«. Der Audiowalk auf den Spuren einer Verschwundenen, der die Aufmerksamkeit auf versteckte Kameras richtete, mag aus heutiger Sicht »eine charmante Unschuld« besitzen, wie die künstlerische Leiterin des Festivals Sophie Becker bei der Spielart-Pressekonferenz im Juli meinte. Damals aber waren Sujet, Format wie Durchführung eine Offenbarung.
Das 13. Spielart-Festival, das von 25. Oktober bis 9. November stattfindet, wird die Theatergeschichtsschreibung betrüben, weil Tilmann Broszat geht (Becker wird das Festival fortan
alleine leiten) und Spielart-Oldies entzücken, weil »Kanal Kirchner« wiederkommt. Denn obgleich Broszat selbstverständlich keine Abschiedsveranstaltung wollte, andere wollten sie schon. So wird unter den heuer 49 eingeladenen Produktionen aus 28 Ländern auch die Studentenarbeit von Stefan Kaegi und Bernd Ernst sein, die als »Hygiene Heute« firmierten, bevor Kaegi parallel dazu die heute bekanntere Gruppe Rimini Protokoll gründete. Und Forced Entertainment wird mit gleich drei Abenden dabei sein.
Der geniale Wahnsinn der Truppe um Tim Etchells ist Spielart-Aficionados ein Begriff. Schon neun Mal waren sie unter dem Dach der Biennale in München – und im vergangenen Jahr war ihr so wunder- wie qualvoller Zwitter aus Gameshow-, Mentalmagie- und Vergeblichkeitssatire »Real Magic« an den Kammerspielen zu Gast. Das besondere Zuckerl: Die Truppe aus Sheffield bringt zu Ehren von Broszat ganze 24 Stunden Theater bei freiem Eintritt mit – aufgeteilt in drei Portionen. Portion 1: Ein Wiedersehen mit ihrem Beichtmarathon »Speak Bitterness«. Portion 2: Die Mega-Meta-Erzählung »And In the Thousandth Night«, die praktisch eine sechsstündige Auskopplung aus ihrer legendären 24-Stunden Performance »Who Can Sing A Song To Unfrighten Me« ist, die Eigendynamik des Fabulierens durchsichtig macht und – wie stets bei den hier unter Pappkronen steckenden Briten – größtmögliches szenisches Leben aus einem Minimum an Mitteln schlägt. Portion 3: »12AM: Awake & Looking Down« ist der halbierte Durational-Erstling von Forced Entertainment, der – nach all dem Beichten und Erzählen – die Themen Verwandlung und Verausgabung variiert, weshalb die Performer laut Becker darum gebeten haben, dieses Stück bereits am Nachmittag beginnen zu dürfen. Selbst Hochleistungs-Improvisierer werden älter.
Sophie Becker, die 2009 als Dramaturgin mit ins Boot kam, trieb die Ausweitung des Programms durch außereuropäisches Theater stetig voran. Für diesmal verspricht sie »viele bildende Künstler, die man sonst bei der Documenta sieht« und eine größere Verwobenheit der Programmlinien passend zur »zunehmenden Verwobenheit der Welt, deren Probleme sich ja auch immer weniger national lösen lassen«. Gut die Hälfte der eingeladenen Produktionen ist erstmals in Deutschland zu sehen, darunter vier Ur- und neun europäische Erstaufführungen. Viele davon kommen wie schon vor zwei Jahren aus Südafrika, aber auch aus Mosambik, Kenia, Nigeria, Namibia, dem Kongo und Kamerun. Flucht und Gewalt – vor allem gegen Frauen – spielen eine große Rolle, wobei laut Becker politische Szenarien oft aus persönlichen Perspektiven entwickelt werden.
So setzt sich etwa die südafrikanische Lyrikerin Stacy Hardy in Laila Solimans »Museum Of Lungs« mit ihrer nicht erkannten Tuberkulose und einem tief im System verankerten Rassismus auseinander, der TBC zu einer fast rein »schwarzen« Krankheit macht. In dieser Produktion begegnet man auch dem Musiker Neo Muyanga wieder, der 2017 mit dem musikalischen Vexierspiel »Tsohle – A Revolting Mass« für ein Festivalhighlight sorgte. Und auch wenn es in vielen Arbeiten politisch zur Sache geht, heißt das nicht, dass es nicht lustig wird: Zum Beispiel »Bag Beatings« von Sello Pesa aus Johannesburg, das Becker so umschreibt: »Drei Männer dreschen auf einen Boxsack ein, und eine Frau macht Quatsch.«
Oder »Hungarian Acacia«, wo es um einen Baum mit Migrationsgeschichte geht, der sich zum ungarischen Nationalsymbol emporintegriert hat. Bei »No.One.Gives.A.Mosquito’s.Ass.About.My.Gig« des in Angola geborenen (Film-)Regisseurs Nástio Mosquito ist schon der Titel lustig. Zudem hat sich der Träger des Future-GenerationKunstpreises laut Becker vorgenommen, das stets ums große Ganze besorgte Europa zu therapieren, und kehrt so gewissermaßen den (post)kolonialen Blick um. Mindestens acht Produktionen firmieren im weitesten Sinne als »Tanzperformance«. Doch die Grenzziehung zwischen den Genres und künstlerischen Disziplinen scheint nie überholter als zu Spielart-Zeiten. So kommt etwa »No President« des Nature Theatre of Oklahoma als »aufklärerisches Handlungsballett« daher, mit »Tänzern«, die laut Becker »das Nussknacker-Motiv variieren, den roten Vorhang bewachen und Mühe haben, bei all den Intrigen und Gegenintrigen den Überblick zu behalten.« Dagegen geht es in »Congo« des Choreografen und Regisseurs Faustin Linyekula eher minimalistisch zu. Ein Schauspieler, eine Sängerin und Linyekula selbst erzählen mit Licht und Schatten die dunkle Geschichte des gleichnamigen Landes.
Letztlich wird jeder seine Schneise schlagen müssen durch ein Mammutprogramm, an dem mehr als 200 Künstler beteiligt sind und das vom Museum Fünf Kontinente bis zum Boxclub fast die ganze Stadt überwuchert. Wer sich an großen Namen orientiert, wird an Milo Raus umstrittenem »Orest In Mossul« sicher nicht vorbei können, aber auch der so anarchische wie pedantische Bühnenbastler Luis Vanhaverbeeke (»Mikado Remix«) oder Julian Hetzels Auseinandersetzung mit Kriegtrümmern aus Syrien (»All Inclusive«) ist sicher eine Empfehlung. Oder man klaubt sich einen thematischen oder lokalen Schwerpunkt heraus wie den Nahen Osten. Am letzten Festivalwochenende winkt gar – wie die erstmals veranstaltete U20-Party quasi ein Gegenpol zur Broszat-Retrospektive – ein ganzes Festival im Festival mit 15 Produktionen junger Künstler: »New Frequencies« heißt es und enthält allerlei garantierte Überraschungseier von der Lecture bis zum Puppenspiel. ||
SPIELART
Verschiedene Spielorte| 25. Oktober bis 9. November
Tickets: 089 45818181
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