Eine Ausstellung von Diamond Stingily im Kunstverein entlarvt den auf Leistung und Erfolg fixierten »American Dream«.
»THROUGH ALL THE MADNESS THIS IS ALL YOU GONE GET« – »Nach dem ganzen Wahnsinn ist dies alles, was du erhalten wirst« steht auf der Plakette einer der kleinen goldenen Trophäen, die im ersten Stock des Kunstvereins platziert sind. Die Statue, in billigem Gold lackiert, zeigt einen Sportler, der American Football spielt, dynamisch und heroisch. Angesichts der lakonischen Beschriftung und der schieren Menge der ausgestellten Pokale entfaltet die mickrige Figur jedoch nichts Heldenhaftes mehr, sie wirkt verloren, melancholisch, gar traurig. Über 700 goldene Figuren reihen sich im ersten Stock des Kunstvereins, sie füllen dunkelbraune Archivregale, die den gesamten Raum einnehmen. Die Trophäen sind Pokale, die für die Teilnahme an Sportwettbewerben verliehen werden, einige sind größer und erinnern an offizielle Siegerehrungen.
Für ihre Arbeit »In the middle but in the corner of 176th Place« (2019) hat die Künstlerin Diamond Stingily die Plaketten der Statuen, auf denen üblicherweise die jeweilige Sportart und der erreichte Platz im Wettbewerb verzeichnet sind, durch poetische Textfragmente ersetzt. Mit einfachen
Worten, teilweise im Slang der amerikanischen Unterschichten, gelingt es der Künstlerin, die Obsessionen einer Gesellschaft, die auf Gewinn, Leistung und die Aussicht auf einen vermeintlichen sozialen Aufstieg getrimmt ist, zu kondensieren und gleichzeitig zu untergraben.
In »Wall Sits«, so der Titel ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Europa, seziert die amerikanische Künstlerin Diamond Stingily die sozialen Gefüge ihres Heimatlandes. Aus einer biografischen Perspektive stellt sie strukturelle Ungleichgewichte in den Fokus. Die 1990 geborene Stingily arbeitet in ihrer künstlerischen Praxis disziplinübergreifend, sie nutzt Text, Video und skulpturale Strategien gleichermaßen. Ausgehend von alltäglichen, gefundenen Objekten nähert sie sich komplexen gesellschaftlichen Themen. Stingily, die in Vororten von Chicago mit überwiegend afro-amerikanischer Bevölkerung aufwuchs, analysiert in ihren subtilen, minimalistischen Installationen die Strukturen einer kapitalistischen Gesellschaft. Druck, Angst und rohe Gewalt stehen einer fast naiven Hoffnung gegenüber, durch Leistung und Willen einen vermeintlichen sozialen Aufstieg erreichen zu können.
Diamond Stingilys Ansatz ist dabei durchaus biografisch, sie vermengt persönliche Erinnerung und gesellschaftliche Tatsachen, die sie in Bezug zu großen sozialen und ökonomischen Fragen stellt. Stingilys Arbeit reflektiert unterschiedliche Themen wie Identität und Weiblichkeit, Erinnerung und Kindheit, Ikonographie, Überwachung und Paranoia. Dabei ist ihre Arbeit durch ihre Erfahrungen als junge, schwarze Frau in einer Leistungsgesellschaft geprägt, in der systemische Rassenungerechtigkeit immer noch brutal zutage tritt. Sportlicher Wettkampf und der ökonomische Druck einer zutiefst kompetitiven Gesellschaft spiegeln einander.
Der Titel »Wall Sits« bezieht sich auf eine Übung im Ausdauertraining, bei der man sich mit abgewinkelten Beinen an eine Wand presst, quasi frei in der Luft sitzend: zum Muskelaufbau oder als Strafübung. Abgegriffene Baseballschläger lehnen an abgenutzten Haustüren, die, mit Schlössern und Gittern gesichert, frei im Ausstellungraum platziert sind und so keine Häuser mehr vor Eindringlingen beschützen können. Ein Baseballschläger ist gleichermaßen ein harmloses Sportgerät und eine brutale Waffe. Diamond Stingilys Arbeit »Entryways« (2019) besteht aus fünf Eingangstüren, die, durch Stangen gehalten, von der Wand abstehen. Die angelehnten Holzschläger evozieren ein Gefühl von Bedrohung und Angst. Tatsächlich verweisen die Objekte auf Kindheitserinnerungen der Künstlerin, ihre Großmutter hatte stets einen Baseballschläger an der Eingangstüre stehen, um sich gegen etwaige Einbrecher verteidigen zu können. »Ich denke, Gewalt ist für viele Menschen ein Teil des Alltags – gewaltfrei zu leben, halte ich für eine sehr privilegierte Sache«, sagt Stingily. Die großmütterliche Eingangstür wird so zur Trennung und Schleuse zwischen Sphären der Geborgenheit und einer brutalen Außenwelt, in welcher der – weibliche – Körper stets bedroht scheint.
»Wall Sits« ist die erste Ausstellung, die von der neuen Direktorin des Kunstvereins Maurin Dietrich kuratiert wurde. Für sie sind Ausstellungen Chancen, über neue Blickwinkel und Perspektiven andere Narrative zu bilden. Das Ziel sei es, Künstlern einen Rahmen zu geben, die bis jetzt noch nicht sichtbar waren. In dieser Ausstellung wirft die Künstlerin Diamond Stingily einen kühlen, aber dennoch liebevollen Blick auf eine Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht von Brutalität, Ungerechtigkeit und Druck geprägt ist. Subtil und poetisch begegnet sie der Härte, die die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft besonders den sozial Schwachen gegenüber zeigt. ||
DIAMOND STINGILY. WALL SITS
Kunstverein München| Galeriestr. 4
bis 17. November| Di–So 12–18 Uhr, Do bis 21 Uhr
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