In dem überwältigenden Spielfilm-Erstling »Systemsprenger« von Nora Fingscheidt geht es um ein wildes neunjähriges Mädchen, das gleich mehrere Dutzend Schreie nach Liebe absetzt.
Es gibt Filme, die faszinieren und fesseln, sie lassen einen verstört, verunsichert, rätselnd zurück, auch lange, nachdem das letzte Bild auf der großen Leinwand zu sehen war. So ein Film ist »Systemsprenger«. Während der Abspann noch läuft, lauscht man andächtig Nina Simones »Ain’t Got No«. In dem Song, der aus dem Musical »Hair« stammt, erfährt man unter anderem, dass jemand keine Schuhe und kein Hemd besitzt, aber auch keine Heimat, keine Liebe und kein Vertrauen in sich selbst hat. Ein Lied, das wie die Faust aufs Auge zu dem Erstlingswerk von Nora Fingscheidt passt. Fünf Jahre hat sie für diesen Film recherchiert, und die wahnwitzige Authentizität, die in jeder Sequenz, jedem Bild, jeder Geste zu sehen ist, schreit einen im wahrsten Wortsinn förmlich an.
»Systemsprenger« handelt von einem Menschen, genauer gesagt, von einem Mädchen, das kurz vor seinem zehnten Geburtstag steht. Benni macht überall Trouble, sie flucht und schimpft, sie schreit und brüllt, sie schlägt und zerstört. Deshalb will sie keine soziale Einrichtung mehr aufnehmen, selbst ausgewiesene Spezialisten lehnen ab, und für eine geschlossene Anstalt als hilflos-finale Alternative ist sie noch zu jung. Dabei will der kleine »Systemsprenger«, wie man so jemanden wie Benni tatsächlich im Fachjargon nennt, nur ein bisschen Liebe und endlich heim zu Mama. Doch weil die hoffnungslos mit ihrer Tochter überfordert ist und regelrecht Angst vor dem unberechenbaren Kind hat, muss ein Spezialprogramm her: Micha, eigentlich ihr Schulbegleiter, verbringt mit Benni eine Woche im Wald, ohne Strom, ohne Wasser, ohne Internet. Das klappt. Benni wird ruhiger, genießt die Natur und findet in Micha, der (meistens) weiß, wie man sie anpacken muss, einen echten Freund. Aber der Weg zurück in den Alltag ist mehr als hart und steinig. Er ist für Benni nicht zu bewältigen, zumal sie Micha, der endlich die zutiefst erhoffte Bezugsperson sein könnte, wieder zu verlieren droht.
»Systemsprenger« ist mehr als bloß ein Sozialdrama, mehr als nur ein filmisches Kunstwerk, es ist etwas, für das man erst neue Worte erfinden muss. Nora Fingscheidt gewährt nicht nur einen tiefen Einblick in die verwundete Seele eines gehetzten, einsamen Menschen, sie tut es auch mit ein drucksvollen Mitteln. Mal rast die zügellose Kamera im Dokustil der Protagonistin hinterher, um dann wieder innezuhalten, reglos auf Bennis Antlitz zu ruhen, um herauszubekommen, was für ein Mensch sich hinter der wilden blonden Mähne und den stahlblauen Augen verbergen könnte. Getragen wird der Film von sensationellen schauspielerischen Leistungen, wobei zwar die erst elfjährige Helena Zengel und Albrecht Schuch (als Micha) auch dank ihrer exponierten Rollen herausragen, die aber von einem exquisiten Darstellerensemble um Charakter-Aktrice Gabriela Maria Schmeide tatkräftig unterstützt werden. »Systemsprenger«, der 120 Minuten lang in Atem hält, bis an die Schmerzgrenze mitleiden lässt, aber auch trotz der Düsternis des Themas immer wieder helle Freude bereitet, hat einen veritablen Triumphzug durch die internationale Festivalszene hingelegt und wurde unter anderem mit dem Silbernen Berlinale-Bären ausgezeichnet. Jetzt kommt der Film in die Kinos, und sollte dort nun das bekommen, was er uneingeschränkt am meisten verdient hat: ein großes Publikum. ||
SYSTEMSPRENGER
Deutschland 2019 | Regie: Nora Fingscheidt
Mit: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide u. v. a. | 120 Minuten
Kinostart: 19. September
Trailer
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