Mit allen Sinnen: Die performative Installation »Sensefactory« will Ideen der Bauhausbühne ins Heute holen.
Drei Bühnen, eine Projektionswand, darunter Pfeile, Kreise, Farbflächen oder Noten, Wellen und Linien: Sie ist eher schwer zu entschlüsseln, die Partiturskizze, mit der der Maler, Fotograf, Typograf und Theatermacher László Moholy-Nagy 1925 sein »Theater der Totalität« aufs Papier brachte. Frei von Texten, Figuren oder naturalistischer Darstellung entwarf der Bauhaus-Lehrer darin ein synthetisches Geschehen aus »Form, Bewegung, Ton, Licht (Farbe) und Geruch«, in dem der Mensch nicht mehr Bedeutung haben sollte als die Apparate. Erlöst von der menschlichen Exzentrik psychologischer Charakterdarstellung, zugleich befreit aus der Passivität der Zuschauerposition, sollte er in Moholy-Nagys »Aktionskonzentration« eine Körper- und Bewegungsfunktion unter anderen werden.
Sich eingliedern und beteiligen an einer »mechanischen Exzentrik« und im theatralen Organismus verschmelzen mit der Maschine. Was Moholy-Nagy vor über 100 Jahren so visionär wie offen entwarf, scheint heute Realität geworden. Aber weniger in den Theateraufführungen unserer Tage als in unserem Alltag. Denn läuft der Cyborg des »Theaters der Totalität«, ausgestattet mit Smartphone, Fitnessuhr und anderen Sensoren heute nicht bereits durch die Welt? Ist die von MoholyNagy anvisierte Mensch-Maschinen-Verbindung nicht längst Protagonistin in realen und virtuellen Wirklichkeiten? Und wird dieser neue Mensch in beidem nicht vor allem eines: Hauptdarsteller im Drama um Daten? Fragen, die Moholys theatrale Ideen so aktuell wie brisant erscheinen lassen. Und Fragen, die jetzt vom Kurator, Installationskünstler und Münchener Muffathallenleiter Dietmar Lupfer zusammen mit einem interdisziplinären Team aus Architekten, Künstlern und Wissenschaftlern sehr eindrucksvoll gestellt werden.
Gemeinsam haben sie die »Sensefactory« entwickelt – performative Installation, Diskurs programm und Publikation. Oder: eine Fabrik der Sinne und Sensoren: »Die Idee war nicht, eine Kopie von Moholy-Nagy hinzubekommen. Die entscheidende Frage war, wie würde man die Intermedialität Moholy-Nagys heute denken können? Mit welchen Mitteln?«, sagt Lupfer beim Pressegespräch. Entstanden ist der Entwurf zu einer großformatigen begehbaren Rauminstallation, die alle Sinne der Besucher ansprechen soll. Drei Kammern aus pneumatischen Luftkissen, die sich auf- und abbauen, senken und heben. Ein Labyrinth mit verschiedenen Öffnungen, in Szene gesetzt durch Licht-, Klang und Geruchseffekte, die von der Bewegung der etwa 30 Besucher, die sich gleichzeitig in der Installation aufhalten können, beeinflusst werden. Diese Bewegung wird weitreichend sein: die Besucher werden gehen, schwanken, liegen, sitzen. Sie werden genauso auf das von KI-Technologie gesteuerte Eigenleben der Installation reagieren, wie diese von den Besuchern gesteuert wird. Alex Schweder, der die pneumatische Skulptur entworfen und für seine Arbeiten den Begriff der ›Performance Architecture›geprägt hat, geht es grundsätzlich um die Interaktion des Menschen mit sich ständig verändernden Raumstrukturen. Die haben wiederum Wirkung auf Beziehungen zwischen Menschen: »So produziert die Architektur von ›Sensefactory›neue Beziehungen, weil sie die Besucher in unkontrollierte Situationen versetzt«, hofft Schweder.
Die soziale Komponente wird in »Sensefactory« vor allem eingebunden sein in eine umfassende sinnliche Erfahrung. Diese hält die Geruchsdesignerin Sissel Tolaas für entscheidend bei der Verteidigung des Menschlichen gegenüber dem Maschinellen. »Unser Körper ist eine so wunderbare Hardware, unsere Sinne sind eine so wunderbare Software«, beschwört sie ganz dem Duktus des Digitalen verpflichtet, um aber doch zu dem Schluss zu kommen: »Wir müssen uns um diese Sinne kümmern, sonst übernimmt das die Technologie.« Diese Technologie, sagt der ebenfalls am Projekt beteiligte Computerkünstler Chris Salter, reize unsere Sinne permanent, manipuliere sie, ohne dass wir Kontrolle oder Einsicht in damit verbundene Prozesse hätten. »Wir sind umgeben von Sensoren. Sie sind überall, aber wir wissen nicht, was diese Sensoren mit unseren Daten machen. Das ist alles sehr unsichtbar, wir wissen nicht, was passiert.«
Die Gratwanderung zwischen unkontrollierbarer Erfahrung und reflexiver Wahrnehmung peilen die Künstler nun eben mit »Sensefactory« an. Zwischen Training, Selbstermächtigung und Immersion bewegen sich ihre Ideen zur Wirkung beim Besucher. Ein weites Feld, in dem Partizipation zur Emanzipation werden kann, das Eintauchen in den Kosmos der »Sensefactory« aber auch die Auslieferung an rätselhafte technische Prozessen einfordert. Der eine wird diesen Kosmos euphorisch und in der Tradition der Bauhäusler vielleicht sogar als Utopie einer anderen, freien, völlig neuen Welt erfahren. Der andere sich in Unruhe versetzt und der Dystopie des Selbstverlustes ausgesetzt sehen. Wer und was letztlich in dieser architektonisch-performativen Manifestation des »tausendäugigen Spielleiters« sein wird, wie Moholy-Nagy noch den Regisseur für sein »Theater der Totalität«
nannte, bleibt offen. Aber wie forderte die amerikanische Philosophin Donna Haraway mit dem Titel ihres letzten Buches: »Unruhig bleiben«. Nur so können wir einer Welt, in der die Vorstellung darüber, was der Mensch überhaupt ist und sein soll, längst ins Wanken geraten ist, möglicherweise doch souverän begegnen. Wenn wir uns dazu noch mit allen Sinnen beunruhigen lassen, umso besser! ||
SENSEFACTORY
YOU HAVE NEVER EXPERIENCED
Muffatwerk| Zellstr. 4 | 4.–8. September
Mi–Sa 20–23 Uhr, So 11–18 Uhr | Eintritt frei
Eröffnung: 4. Sept., 20 Uhr | Rahmenprogramm: Videoinstallation »Das Totale Tanz Theater 360°« sowie Hörraum »Audio Space
Machine« in den Studios | Symposium »From Bauhaus to SENSEFACTORY«: 7. Sept., 15–20 Uhr im Ampere | Info und weitere Veranstaltungen
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