Auch in diesem Jahr haben wir und unsere Autoren geschaut, welche Lektüre für den Urlaub besonders empfehlenswert ist. Weitere Lesetipps gibt es in der aktuellen Ausgabe.
Surreale Verzückungen
WSEWOLOD PETROW: WUNDER
Friedenauer Presse, 2019 | 120 Seiten | 18 Euro
von Petra Hallmayer
Ein Mann hat die Eigenschaft, immer wieder zu verschwinden, bis nur mehr ein angebundenes Bein von ihm zurückbleibt. Das Absurde kommt in Wsewolod Petrows literarischen Miniaturen, die zwischen den surrealen Verrückungen der Träume und der Wirklichkeit changieren, ganz selbstverständlich daher. Der Freund von Daniil Charms, dem er einen Erinnerungstext widmete, erzählt, wie das Wort »Wirlirlirlirli« eine Familie, in der sich alle über alle ärgern, plötzlich glücklich macht, von der Suche nach Schönheit und Wundern und vom Tod, der uns auf den Fersen ist und den man nur gemeinsam mit dem Leben abschütteln kann. Petrows wunderbar wunderliche Geschichten, die erst in seinem Nachlass entdeckt wurden und in denen sich das gesellschaftspolitische Klima seiner Zeit widerspiegelt, sind keine kühl konzipierten Sprachexperimente. Seine »Philosophischen Erzählungen« sind subversiv alogisch, skurril komisch, berührend und todtraurig. Wer einen Sinn für das Absurde hat, wird diesen schmalen Band lieben. ||
Fehlerquelle Mensch
SIBYLLE BERG: GRM BRAINFUCK
Kiepenheuer & Witsch, 2019 | 640 Seiten
25 Euro
von Ralf Dombrowski
Sibylle Berg haut viele markige Sätze raus. Einer davon steht auf Seite 496 von »GRM Brainfuck« und umreißt die Kernthese des Buchs: »Die Fehlerquelle Mensch ist nicht mehr tragbar.« Um diese Annahme herum baut sie einen nahdystopischen Roman, wo Errungenschaften der überwachungskapitalistischen Welt in ihrer jeweils negativen Spielart präsentiert werden. Es passiert wenig außer den alltäglichen Katastrophen, die vier Jugendliche in trostloser Londoner Vorstadt auf dem Weg zum Erwachsenendasein begleiten, ergänzt um reichlich illustratives Personal. Berg erzählt lakonisch, sprachlich pointiert, kreativ bei Interpunktion und Gliederung, was der eher statischen Handlung zu Tempo in Miniaturabschnitten verhilft. Am Ende der Prophetie steht eine modifizierte Huxley-Blase, eine auf Veranlassung einer KI gereinigte Gesellschaft freundlich Betäubter. Nichts, was man sich wünscht, aber konsequent aus einer überwiegend männlich verursachten Utopie entwickelt. Ein cleveres Buch, das einem den Urlaub so richtig vermiesen kann. ||
Wortgefechte
VIVIAN GORNICK: ICH UND MEINE MUTTER
Aus dem Englischen von pociao
Penguin Verlag, 2019 | 222 Seiten | 20 Euro
von Tina Rausch
Zwei Frauen spazieren durch Manhattan – und gedanklich zurück in ihr früheres Leben in der Bronx. Das ist die Rahmenhandlung dieses 1987 in den USA, jetzt auf Deutsch erschienenen Memoirs. Die Frauen, das sind die damals 40-jährige Autorin Vivian Gornick und ihre Mutter, eine früh verwitwete jüdische Immigrantin, die stets zu wissen glaubte, was das Beste für ihre Tochter ist. Vivian sollte ein anderes Leben führen als sie, die den Haushalt führte und nach dem Tod ihres Mannes mittellos dastand. Jedoch unterschätzte die Mutter die Kraft von Bildung. Auf dem College entdeckte Gornick, »dass Menschen von Ideenverändert werden und intellektuelle Gespräche wahnsinnig erotisch sein können«. Die Gespräche zwischen Mutter und Tochter bespielen indes die gesamte Klaviatur der Gefühle, schwanken in erbitterten Wortgefechten zwischen Zuneigung und Abgrenzung, Verständnis und Widerwillen. Gnadenlos, doch voller Humor und Liebe seziert Gornick eine individuelle Beziehung, in der sich wohl jede Tochter dieser Welt zumindest zum Teil wiederfinden wird. Zugleich erzählt sie von ihrer Ichwerdung, die sie nicht zuletzt der Literatur verdankt: »Ich verstand alles, was ich verstehen musste, um agieren, leben, sein zu können.« Und um dieses Buch zu schreiben. ||
Romy
HANS-JÜRGEN SYBERBERG: ROMY IN KITZBÜHEL 1966
Texte, Photographien, Filmstills aus dem Romy Schneider-Film »Portrait eines Gesichts« im Director’s Cut | Schirmer/Mosel, 2018
128 Seiten | 82 Abbildungen | 19,80 Euro
von Florian Welle
»Romy Schneider, über die Claude Sautet einmal sagte, sie sei von einer Schönheit gewesen, die sie selbst gestaltet habe – »eine Mischung aus giftigem Charme und tugendhafter Reinheit« –, wäre im vergangenen Jahr 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat Hans-Jürgen Syberberg ein Büchlein herausgegeben, in dem er die wechselvolle Geschichte seines Dokumentarfilms »Romy. Portrait eines Gesichts« erzählt. Drei Tage begleitete der Filmemacher 1966 die 27-Jährige. 90 Minuten dauerte der fertige Film, der BR jedoch bestand auf einer Stunde. Die Kürzung war die erste Beschädigung des Portraits, das wegen der Aufrichtigkeit der Schauspielerin noch immer bewegt. Das allerdings nur ein einziges Mal im Fernsehen lief, und zwar in einer Fassung, die durch 32 Änderungen, auf die Romys Ehemann Harry Meyen be standen hatte, weiter verstümmelt wurde. Syberberg hatte sich zu diesem Zeitpunkt längst von allem distanziert. Seine Fassung wurde erst wieder 1998 gezeigt, man kann sie heute im Netz anschauen. Oder die vielen Filmstills studieren, sehen, wie Romy lacht, zweifelt, stets zu fragen, etwas zu suchen scheint. Ursprünglich sollte der Film »Anatomie eines Gesichts« heißen. Auch das wurde Syberberg verwehrt. ||
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