»Die Physiker« im Volkstheater: Abdullah Kenan Karaca inszeniert Dürrenmatts Stück formbewusst und grotesk.
Wer heute in die politische Landschaft schaut, ahnt, wo die wirklich Verrückten sitzen: Oft an den Schalthebeln der Macht. Über das Wissen, das Geld und Herrschaft bringt, herrschen Facebook und Amazon. Was sie an Daten abschöpfen, interessiert Regierungen und Geheimdienste. Im Kalten Krieg während der 1950er Jahre bedrohten sich die Staaten mit der Atombombe. Als deren »Vater« gilt der Physiker J. Robert Oppenheimer. Nach den US-Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki warnte er vor seiner Erfindung und bezichtigte sich als »Zerstörer der Welt«. Ihn nahm 1961 der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt zum Vorbild für das Physik-Genie Möbius, das in der Komödie »Die Physiker« freiwillig im Irrenhaus lebt, um sein gefährliches Wissen nicht preisgeben zu müssen.
»Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Ausweitung alle Menschen«, schrieb Dürrenmatt als Anmerkung zum Stück. Und: »Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung nimmt.« Im Volkstheater nimmt der Regisseur Abdullah Kenan Karaca beides ernst. Er will aus der Komödie die Tragödie herausschälen – aber mit hoch komödiantischen Mitteln. Er verzichtet auf jede politische Aktualisierung und inszeniert formal und handwerklich brillant im Stil einer grotesken Stummfilmklamotte. Möbius (Jakob Immervoll) und seine beiden Mitinsassen, ebenfalls Physiker, von denen sich einer für Newton (Mauricio Hölzemann) und der andere für Einstein (Vincent Sauer) hält, sind weiß und hohläugig geschminkt, in schlampigen Anstaltskitteln. Pantomimisch liefern sie einen großartigen Slapstick auf einer Leiter, um mit einem Apfel das Gravitationsgesetz zu beweisen.
Fabelhaft die Bühne von Vincent Mesnaritsch: Ein gestaffeltes Guckkasten-Portal mit grafisch verschachtelten Rauten, die sich auch mal zu Spitzelzwecken öffnen. In der Mitte eine große kreisrunde Öffnung, dahinter eine Dschungeltapete mit Riesenfarnen. Davor manchmal eine Gazewand für Schatten spiele. In blutrotem Licht ermordet da Möbius aus Angst vor Entdeckung seine Pflegeschwester, erst erdrosselt, dann erdolcht und schließlich zersägt er die widerspenstige Monika. Ein Comic.
Der Mord ist schon der dritte an einer Schwester, weshalb der elegant-skurrile Inspektor Voß (Pascal Fligg) sich schon wieder mit der Anstaltschefin Fräulein von Zahnd unterhalten muss. Am Tag zuvor hatte ihn die äußerst resolute Monika (Luise Deborah Daberkow) noch strafend am Rauchen gehindert. Fräulein von Zahnd hat nichts dagegen: Carolin Hartmann spielt sie als machtbewusste Diva, die ihre geheimen Sehnsüchte in dem Kurt-Weill-Song »Youkali« enthüllt, gehüllt in eine riesige rosa Tüllwolke (Kostüme: Elke Gattinger). Warum jedoch Monika als Untote aus der Versenkung noch »Non, je ne regrette rien« schmettern muss, bleibt rätselhaft.
Dürrenmatts Stück kippt in einen Thriller: Newton und Einstein sind Geheimdienstagenten auf der Jagd nach dem Wissen von Möbius, der alle Welträtsel gelöst hat. Der aber warnt: »Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere Erkenntnis tödlich.« Die schlimmstmögliche Wendung bleibt den drei Normalen nicht erspart: Möbius’ Aufzeichnungen wurden von einer wirklich Verrückten gehackt. »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden«, resigniert er. Karacas Inszenierung lässt das so stehen – zum Nachdenken. ||
DIE PHYSIKER
Volkstheater| 8., 14., 20. Juni, 2., 10. Juli| 19.30 Uhr
Tickets: 089 5234655
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