In Yishai Sarids »Monster« wird ein Historiker zum Erinnerungsarbeiter. Die Gräuel der Geschichte bringen ihn an den Rand des Abgrunds.

Das Ungeheuer, von dem hier die Rede sein soll, ist das heimtückischste von allen, denn es bemächtigt sich der Gedanken seiner Opfer, verformt und krümmt sie, richtet sich gegen sie selbst, bis ihre Bahnen kein Außen mehr berühren – ein den Verstand zermalmendes Biest. In Yishai Sarids neuem Romanträgt es einen Namen: Es ist das »Monster derErinnerung«, so auch der hebräische Titel der israelischen Originalausgabe (מכלצת הזכּרון – Mifletzet HaSikaron). In der deutschen Ausgabe wird es schlicht zum »Monster«.

Gemeint sind die monströsen Pfade der Erinnerung an die Shoa, von denen der junge, auf sonnigen Pfaden durchs Leben schlurfende namenlose Geschichtsdoktorand und Protagonist dieser Erzählung bisher weitestgehend verschont geblieben ist. Der junge israelische Familienvater strebt eine Laufbahn im auswärtigen Dienst an. Er wäre gerne Diplomat an einem – anders als sein Heimatland – von historischen Beschwernissen unbelasteten Ort. Diese Laufbahn soll dem studierten Historiker allerdings verwehrt bleiben. Lediglich eine Stelle als Iranexperte wird ihm von den Behörden angeboten. Da es ihm allerdingszu anstrengend ist, Persisch zu lernen, tritt er, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, eine Stelle als Holocaust-Forscher an der Erinnerungsstätte Yad Vashem an. Sein wissenschaftlicher Gegenstand: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Arbeitsmethoden deutscher Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg. »Ich stellte die Vernichtungsmethoden in den einzelnen Lagern nebeneinander – Chelmno, Belzec, Treblinka, Sobibor, Majdanek und Auschwitz ( … ) Ich prüfte unter dem Mikroskop des Historikers die jeweils gängigen Stadien, vom Aussteigen aus den Eisenbahnwagen über das Auskleiden und das Einsammeln der Kleidungs- und Gepäckstücke, die Täuschungsmanöver, die die Deutschen vollführten, um die Opfermassen zu beruhigen, das Abscheren des Kopfhaars, den Marsch zu den Gaskammern, die Konstruktion dieser Kammern und die Art des verwendeten Gases, die Vorgehensweise beim Einlassen der Menschen in die Kammern, die Wartezeit, das Ziehen der Goldzähne und die Suche nach Wertgegenständen in den Körperhöhlen bis hin zur Entsorgung der Leichen und der Personaleinteilung für die einzelnen Stationen etc., wobei ich jeweils Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeitete.«

Der Bericht von Sarids Protagonisten setzt sich in diesem nüchternen Tonfall fort. Da seine Vorgesetzten in ihm ein großes Talent für das Erfassen unübersichtlicher Datenmengen erkennen, wird sein Forschungsauftrag bald ausgeweitet. Er soll israelische Schulgruppen durch die Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager führen. Seine mentale Beschaffenheit scheint hierbei zunächst ein Vorteil, lässt der Teilnahmslose sich von Gefühlen angesichts der von den Deutschen begangenen Gräuel doch scheinbar nicht überwältigen. Aber auch der Protagonist bleibt vom Monster der Erinnerung nicht verschont. Auf einem der Lagergänge fällt der Protagonist in Ohnmacht. Es beginnt ein langsamer, stetiger Zersetzungsprozess, der am Ende gar in einen Gewaltakt mündet. Yishai Sarid untersucht in seinem Roman die Rituale des Gedenkens, und er setzt diese einer unerbittlichen Kritik aus. Auf seinen Touren durch die Konzentrationslager begegnet sein Erzähler Jugendlichen, die angesichts seiner Holocaust-Schilderungen den apathischen Blick nur selten von ihren Handydisplays lösen, in Flaggen gehüllt die Hatikwa singen, im Gedenken an die Kinder in Gruben Gedenkkerzen entzünden und allerlei selbsterfundene Rituale zelebrieren, »um ihren Augen eine Träne abzuringen«. Immer wieder stellt er bei den Jugendlichen eine eigenartige Faszination für die Deutschen bei gleichzeitiger Abwertung anderer wie etwa der Polen oder der Araber fest (»Araber, so müsste man es mit den Arabern machen«). Es ist dies wohl die unbequemste Erkenntnis in Yishai Sarids Roman, dass Täterdenken auch von Opfern und ihren Nachfahren internalisiert werden kann. Ein Kult der Stärke ergibt sich daraus, er ist das Produkt eines geistigen Umwandlungsprozesses, an dessen Anfang immer die viel zu große Last der Erinnerung und der mit ihr verbundene Schmerz steht.

Ein deutscher Dokumentarfilmer meldet sich für eine Privattour an. Ungewollt macht er den Erzähler zu einem Darsteller in seinem Film, inszeniert ihn in mehrfacher Hinsicht in einer Opferrolle, eine Zuschreibung, die der sich nicht gefallen lassen will. Yishai Sarids Roman wählt einen scheinbar unversöhnlichen Ausgang hinsichtlich der Normalisierung deutsch-jüdischer Verhältnisse – es ist eine notwendige Härte, denn der Autor rüttelt damit auch an einem verbreiteten Selbstverständnis vieler heute lebender Deutscher. Gerade mit dem Aussterben der Zeitzeugengeneration ist vermehrt eine Deutung der Geschichte zu vernehmen, die die historische Erfahrung von Deutschen und Juden in einen gemeinsamen Kontext erfahrenen Leids rückt. »Haben wir nicht alle unter dem Nationalsozialismus gelitten?«, hört man dann gerne im Hinblick auf die Großväter und Großmüttergeneration. Yishai Sarids »Monster« lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei diesen historischen Erfahrungen um nicht austauschbare Kategorien handelt.

Am Ende wird im Roman zum Hieb gegen den herrisch und belehrend auftretenden Filmemacher ausgeholt. »Da versetzte ich ihm den ersten Faustschlag in die Visage (…) Ich musste das tun.« Ein Akt der Selbstermächtigung, der dennoch keine Befreiung von der Geschichte verheißt. Wir wissen an der Stelle dieses cleveren und erschütternd kraftvollen Buches, dass das Monster der Erinnerung weiter frisst. Es wird niemals satt. ||

YISHAI SARID: MONSTER
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Kein & Aber, 2019 | 176 Seiten | 21 Euro

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