Zwei italienische Choreografen – Alfredo Zinola und Diego Tortelli – kreieren spannende Naherfahrungen mit Tänzerkörpern für Kinder und Jugendliche. Dabei geht es um individuelles Erleben und eigene Perspektiven.

Häute als haptische Erfahrungen – Alfredo Zinola: »Pelle«| © Company Alfredo Zinola

»Pelle« ist Italienisch und heißt auf Deutsch »Haut«. Die ist dasgrößte Organ unseres Körpers und das Thema des neuen Stückes von Alfredo Zinola. Ende November erfuhr man auf einer Art Brainstorming-Arbeitstreffen, dass sich Zinolas Team im Vorfeld allerlei Gedanken gemacht hat etwa über Body Positivity, über die (Un-)Möglichkeit, das Nacktheits-Tabu im Kindertheater zu brechen, oder wie man gerade bei experimentellen Performances verhindern kann, dass erwachsene Begleitpersonen in Interpretationsvorleistung gehen oder so wohlmeinend wie kontraproduktiv als Wahrnehmungsfilter für ihre Kids fungieren. Der Tänzer, Choreograf und studierte Anthropologe, der von sich sagt »Ich möchte die Grenzen dessen verschieben, was Performance für Kinder sein kann oder darf«, erforscht die Bedingungen der Möglichkeit derartiger Grenzverschiebungen höchst sorgfältig – etwa in probenbegleitenden Workshops.

Zinolas Performances, die seit 2013 die freie Szene bereichern, zeigen nicht einfach abstrakten zeitgenössischen Tanz für junges Publikum, sondern ermöglichen zugleich einzigartige Raumerfahrungen und gestalten die Schnittstelle zwischen Zuschauer und Performern fortwährend neu. In »Nero« wurden Kindergartenkinder eingeladen, die Geheimnisse der Dunkelheit zu entdecken, die mit Licht auf pailettenbesetzten Kostümen, schwarzen Wänden und synchronenBewegung lebendig wurde und durch die Behutsamkeit, mitder die Performer ihrem Publikum begegneten, jeden Grusel verlor. Im Unterwasser-Tanzstück »Primo« stiegen Alfredo Zinola und Felipe Gonzalés nur mit Badehosen bekleidet in ein Wasserbassin und gaben durch Bullaugen den Blick auf haarige Tänzerbeine und -Füße frei, deren Materialität und Textur durch die Berührung mit glitzerndem Wasser selbst fluide zu werden schien.

»Pelle« denkt das Thema Berührung weiter und dockt an der Faszination an, die nicht nur der Tänzerkörper schon auf Kinder ausübt, sondern auch weniger »definierte« Wunder der Natur. Zinola selbst, die Schauspielerin Tatiana Saphir und der Tänzer und Lyriker Felipe Gonzáles zeigen Haut. Aber nicht allein ihre eigene, denn die »Pellen«,die uns umgeben, können aus diversen Stoffen bestehen. Weich wie Fell, glitschig, rauh, schorfig wie Borke oder seidig glatt. In »Pelle« will Alfredo Zinola »einen Raum aus Haut« kreieren, »in dem es möglich ist, mit Haut, Körper und Nähe zu spielen. Ein Raum, in dem jeder, der mag, mitmachen, zuschauen, reden und sich mit dem Thema beschäftigen kann. Dafür müssen wir ein Ambiente herstellen, das von Vertrauen geprägt ist und in dem ein Dialog entstehen kann.«

Im Wechsel der Sichtweisen – Diego Tortelli: »Shifting Perspective« | © Cristina Valla

Die eigene Perspektive
Die Bedeutung des richtigen Rahmens, von interpersonalen Beziehungen und der Einhaltung von Regeln ist bei partizipativen Performances nicht zu unterschätzen. Das weiß auch Diego Tortelli, der mit »Shifting Perspective« einen zwischen Installation und Performance situierten Abend plant, an dem kein Zuschauer am Ende dieselbe Erfahrung gemacht hat wie ein anderer. Die Produktion entsteht im Rahmen des Tanzvermittlungs-Netzwerkes »explore dance«, das zeitgenössische Künstler in München, Hamburg und Potsdam inspirieren will, vermehrt für junges Publikum zu arbeiten. Für Tortelli, den Simone Schulte-Aladag vom Münchner NetzwerkpartnerFokus Tanz / Tanz und Schule e. V. vor allem als »grandiosen Tänzer« in Richard Siegals Kompanie Ballet of Difference kennenlernte, ist es tatsächlich die erste Produktion für junge Zuschauer.

Initiiert aber hat der 31-Jährige, der mit so unterschiedlichen Choreografen wie Nacho Duato, Emio Greco, Lucinda Childs und Jiří Kylián gearbeitet hat, den Szenenwechselselbst: »In meiner eigenen Arbeit und als Zuschauer habe ich oft erlebt, wie Kreative Loops produzierten, die die Vorstellungskraft des Zuschauers nicht mehr fordern.« Und auch er selbst ertappte sich immer wieder dabei, enttäuscht zu sein, wenn Zuschauer nicht denselben »Trip« erlebten wie er. Das brachte sein Selbstbild als Verfechter einer freien Kunst ins Wanken, in der »Freiheit« auch die Freiheit der Wahl meint. Oder Zuschauerkreativität, wenn man so will. In dieser Angelegenheit verspricht er sich von den Jugendlichen, deren Vorstellungsvermögen er mit »Shifting Perspective« »zum Fliegen zu bringen« hofft, viel Inspiration, »von ihrer Frische und ihren neuen Sichtweisen auf das, was Theater sein kann«. Um darüber Aufschluss zu erhalten, hat er das Instagram-Profi l »yourownperspective« eingerichtet. Im Gegenzug »will ich ihnen ein Tanzstück anbieten, das aus jeder Perspektive eines vollen 360-Grad-Winkels aus betrachtet werden kann und dem Zuschauer die Wahl überlässt«.

Im Klartext teilen sich die Jugendlichen einen Raum mit drei Tänzern, die laut Tortelli Sportkleidung tragen »und was gerade modern ist«, damit sich das Publikum in ihnen spiegeln kann. Auf den Ohren hat es dabei einen von drei Soundtracks, zwischen denen es frei switchen kann und die – so die Idee – die Stimmung und Interpretation des theatralen Geschehen unterschiedlich färben. Francesco Sacco aus Mailand ist gerade noch dabei, sie zu komponieren. Klar ist schon jetzt: Alle drei verbindet ein gemeinsamer Rhythmus und die exakte Dauer von vierzig Minuten. Doch während man auf dem einen Kanal Elektro-Beats hört, geht es auf dem zweiten melodischharmonisch und auf dem dritten philosophisch zu und man erfährt mehr über Perspektiven, soziale Netzwerke und dergleichen. Unabhängig davon aber ist starker Tanz garantiert, denn der Cast verspricht höchstes Können und spannende Diversität: Der Italiener Christian Cucco hat laut Tortelli eine starke Persönlichkeit und viel Power, die zarte Koreanerin Jin Young Won nennt er »extrem poetisch« – und Corey Scott-Gilbert muss man ohnehin nur einmal sehen und wird die überlangen Glieder dieses schwarzen Hünen nie vergessen, die er in München zuletzt bei Richard Siegals »Metric Dozen« oder dessen »Soli for Corey« schwang und streckte. Ein Augenschmaus! ||

ALFREDO ZINOLA: »PELLE«
HochX| Entenbachstr. 37 | 16. Februar, 15 Uhr; 17. Feb., 14 und 17 Uhr | Tickets: 089 90155102,

DIEGO TORTELLI:»SHIFTING PERSPECTIVE«
Muffathalle | Zellstr. | 28. Februar, 19 Uhr, 1. März, 11 und 19 Uhr | Tickets: (Vormittagsvorstellung) ticketing@tanzund-schule.de | (Abendvorstellungen) 089 54818181

 


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