Das Große im Kleinen: Édouard Louis prangert die französische Politik an – und Annie Ernaux offenbart, wie sich Geschichte stets wiederholen und doch verändern kann.
Im Jahre 2004 hört Eddy in der Schule zum ersten Mal vom Kalten Krieg, von der deutschen Teilung, dem Bau und Fall der Mauer. Dass mitten in Europa eine Großstadt von heute auf morgen einfach geteilt werden konnte, beeindruckt den Jungen enorm. Der restliche Schultag zieht an ihm vorüber; er kann es kaum erwarten, nach Hause zu laufen, um den Vater nach dessen Erinnerungen an den Mauerfall zu löchern. Schließlich war der um 1990 über 20 Jahre alt, ein Zeitzeuge quasi. Doch der Vater weicht allen Fragen aus. »Ach ja, stimmt ja, da war diese Mauer, hab ich im Fernsehen gesehen«, ist alles, was der Sohn von ihm erfährt. Das Weltgeschehen nebenan hatte nichts zu tun mit dem Leben des Arbeiters aus der französischen Provinz, der es als Männlichkeitsbeweis verstand, früh die Schule zu verlassen und keine Ausbildung zu absolvieren. »Ich war zwölf, aber ich benutzte Wörter, die du nicht verstehen konntest«, schreibt Édouard Louis in »Wer hat meinen Vater umgebracht«. Erst im Rückblick erkennt er, dass der Vater sich damals für seine Unwissenheit schämte.
Was es für einen homosexuellen, wissbegierigen Jungen bedeutete, um die Jahrtausendwende in einem prekären Umfeld aufzuwachsen, beschrieb Louis schon 2015 in seinem Debüt »Das Ende von Eddy«. Seitdem hat sich einiges getan: Louis lebt in Paris, er hat Philosophie und Soziologie studiert und lehrt selbst, 2018 beispielsweise als Gastprofessor am literaturwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin. Vor allem aber gilt der 26-Jährige als wichtiger jüngerer Vertreter der »Littérature engagée«, von Texten, die anhand von (auto-)biografischen Erlebnissen Gesellschaftsverhältnisse analysieren, die neben dem Individuellen also stets auch das große Ganze fokussieren. Ob in Romanform, als Essay oder Artikel für die internationale Presse – Schreiben versteht Louis als politische Arbeit. In »Wer hat meinen Vater umgebracht« geht er nochmals zurück in seine Kindheit, beleuchtet mit soziologisch geschärftem Blick die Lebensumstände seines heute invaliden Vaters und setzt sie in Bezug zu politischen Entscheidungen.
Dass Louis wie sein Mentor, der Soziologe und Philosoph Didier Eribon, und dessen großes Vorbild, die Schriftstellerin Annie Ernaux, der Unterschicht entstammt, ist keineswegs Zufall: Louis (Jahrgang 1992), Eribon (1953) und Ernaux (1940) machen sich, ihre Familie und Herkunft zum Forschungsobjekt, um strukturelle Missstände aufzudecken – und eine parallele Lektüre liefert mitunter die Erkenntnis, dass sich über die Jahrzehnte wenig verbessert hat. Der in Deutschland erst spät entdeckten Autorin Ernaux gelang 2008 in »Les années« (»Die Jahre«, 2017) der Coup, ihr Leben von der Geburt während des Zweiten Weltkriegs bis in die Nullerjahre zu erzählen, ohne das Wort »Ich« zu verwenden. »Eine einzelne Existenz, die in der Bewegung einer ganzen Generation aufgeht,« zu beschreiben war ihr Ziel. Streckenweise liest sich ihre »unpersönliche Autobiografie«, ihr »totaler Roman«, irritierend zeitgemäß: Irgendwann tauchtein Rechtsextremer namens Jean-Marie Le Pen auf, vergessene Wörter wie »Bürgertum« und »Klasse« werden wieder wichtig. »Man zog Kraft aus seiner ›Herkunft‹«, und nach Mitterands Wiederwahl 1988 »blieb alles beim Alten, das Einzige, was sich änderte, war, dass die neu eingeführte Sozialhilfe die Armut umgestaltete«.
Édouard Louis erinnert sich, wie sein Vater mit der Familie ans Meer fuhr, um zu feiern, dass die jährliche Unterstützung für Schulsachen um hundert Euro erhöht wurde. Menschen, die alles haben, kämen nie auf so eine Idee, »denn für sie ändert die Politik so gut wie nichts«. Für Familien wie seine sei Politik hingegen »eine Frage von Leben oder Tod«. Dass Louis gegen Ende seines schmalen Buches einige Politiker dezidiert für den körperlichen Verfall seines Vaters verantwortlich macht, erscheint reichlich verkürzt – doch sein Besuch im Literaturhaus bietet sicher die Gelegenheit, diese Thesen nicht zuletzt im Hinblick auf die Gelbwesten-Proteste zu diskutieren.
Im März erscheint mit »Der Platz« übrigens das nächste auf Deutsch übersetzte Buch von Annie Ernaux. Im Zentrum steht: ihr Vater. Geboren um 1900, ging er früh von der Schule ab, arbeitete als Bauer und führte später einen Lebensmittelladen. Es erfüllte ihn mit Stolz, dass es seine Tochter zu höherer Bildung brachte, obgleich sie sich dadurch entfremdeten. Auch Louis’ Vater ist mittlerweile stolz auf seinen Sohn. Nicht zuletzt durch seine Gesellschaftsanalysen hat dieser nun zu ihm zurückgefunden. ||
ÉDOUARD LOUIS: WER HAT MEINEN VATER UMGEBRACHT
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel | S. Fischer, 2019 | 80 Seiten | 16 Euro
ANNIE ERNAUX: DIE JAHRE
Aus dem Französischen von Sonja Finck | Suhrkamp, 2017
255 Seiten | 18 Euro
DER PLATZ
Aus dem Französischen von Sonja Finck | Suhrkamp, 2019
94 Seiten | 20 Euro | erscheint am 11. März
AUTORENLESUNG UND GESPRÄCH MIT ÉDOUARD LOUIS
Moderation und deutsche Lesung: Hinrich Schmidt-Henkel
Literaturhaus | Salvatorplatz 1 | 4. Februar| 20 Uhr
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