Susanne Röckel erhält für ihren Roman »Der Vogelgott« den Tukan-Preis–Buchpreis der Stadt für Münchner Autorinnen und Autoren
Es ist eine unheimliche Geschichte, die sich da in einem zunächst altmodisch anmutenden Erzählmodus entfaltet. In einem »Prolog« berichtet der Lehrer und passionierte Ornithologe Konrad Weyde von seiner Reise in ein düsteres verfallenes Dorf am Rande der Zivilisation. Dort erblickt er einen Vogel von majestätischer Schönheit, den die Bewohner wie einen Gott achten. Entgegen ihren Warnungen will er das Tier als Trophäe für seine Sammlung erlegen und ausstopfen, doch als er ihm im Gebirge in die Augen schaut, ergreift ihn plötzlich ein schwindelerregendes Gefühl der Schwäche und Unterlegenheit. Für einen Augenblick wird sein streng rationalistisches Weltbild brüchig. In Susanne Röckels Roman »Der Vogelgott«, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und nun mit dem Tukan-Preis der Stadt München ausgezeichnet wird, verliert jeder irgendwann seine Gewissheiten und Selbstgewissheiten.
In drei sich anschließenden Kapiteln erzählen Konrad Weydes Kinder von ihren Begegnungen mit dem Unheimlichen: Thedor, der sich nach einem abgebrochenen Studium ziellos treiben lässt, fährt im Auftrag einer dubiosen Hilfsorganisation ins Land der Aza, wo er in einen Strudel spukhafter Ereignisse gerät, und landet nach seiner Heimkehr in der Psychiatrie. Die Kunsthistorikerin Dora, die seit Jahren an ihrer Dissertation bastelt, versucht die Rätsel des Altarbildes »Die Madonna mit der Walderdbeere« zu ergründen, das sie mit ihrer verstorbenen Mutter verbindet und hinter dem sie die Spuren eines blutigen Opferkultes zu erkennen meint. Bei ihren fieberhaften Recherchen entfremdet sie sich zunehmend dem akademischen Betrieb und verfällt der Faszination böser Engel und geflügelter Wesen. Der Journalist Lorenz, dessen Ehe gerade zerbricht, wird in einer zeitgenössischen Stadt mit der Macht des Bösen konfrontiert. Sie alle geraten in den Bann des über hypnotische Kräfte verfügenden, gleichermaßen abstoßenden und anziehenden Vogelgottes, den man an seinem beißenden Geruch und seinen stechenden Augen erkennt und der ihnen in wechselnden Gestalten erscheint – mal als Geist des von den Aza verehrten Rebellenführers Chief Ali, mal als Klinikarzt oder Direktor einer Kunstsammlung.
Röckel überführt in »Der Vogelgott«, den ein Rezensent als eines der »sonderbarsten, befremdlichsten, rätselhaftesten Bücher dieses Jahres« bezeichnete, das literarische Genre der schwarzen Romantik souverän in die Gegenwart, nimmt uns mit auf eine spannende Expedition ins Reich der Finsternis. In ihrem Roman, der um die blinden Flecken der Rationalität kreist, die Präsenz des Dämonischen unter dem Firnis einer aufgeklärten Gesellschaft, die an keinen Gott mehr glaubt, und die »grausame und erhabene Macht« der Natur beschwört, sind die Grenzen zwischen dem Realen und dem Irrealen, dem Einst und dem Heute durchlässig. Man kann der Münchner Autorin, wie es eine Kritikerin tat, vorwerfen, dass sie Klischees bedient, indem sie die Ursprünge des Bösen in einem »wie von der Zeit vergessenen« osteuropäischen Dorf und einem imaginären Afrika ansiedelt. Ebenso aber lassen sich darin Zitate des an uralte Ängste rührenden Gruselgenres sehen. Schließlich ist der wegen Wahnvorstellungen in die Psychiatrie eingelieferte Thedor alles andere als ein zuverlässiger Erzähler und liegen die Orte, zu denen ihre Protagonisten reisen, in einem fantastischen Irgendwo.
Verflochten mit dem Netz aus schaurigen Geschehnissen, die der Logik der Albträume gehorchen, ist die Geschichte einer emotional defizitären Familie. Jedes der drei Kinder des selbstherrlichen Forschers und Vaterrichters, die ihre in »Mattigkeit und Müdigkeit« dahinsiechende Mutter früh verloren haben, scheitert im Leben und ist anfällig für den Einbruch des Irrationalen. Sie alle sind Menschen, die in der vernunftgläubigen Welt keinen Halt finden und über die es am Ende heißt: »Wir träumen, erwachen, träumen, sinken, steigen auf und lassen uns treiben. Wir spielen. Etwas anderes haben wir nie getan, zu etwas anderem taugen wir nicht.«
Susanne Röckels Roman, der durchzogen ist von Verweisen auf Mythen und Märchen, den Vogel Greif, das Ungeheuer Typhon und den Adler Ethon, der Prometheus’ Leber frisst, treibt ein raffiniertes, kunstvolles und nicht leicht zu entschlüsselndes Verwirrspiel mit Motiven. Doch wer keine Freude daran hat, die Stränge zu entwirren und zu deuten, kann das Buch auch einfach als einen modernen Schauerroman mit klassischen Gruselelementen und kafkaesken Momenten lesen, dessen fesselnder Sog bis zur letzten Seite anhält. ||
SUSANNE RÖCKEL: DER VOGELGOTT
Jung und Jung, 2018 | 272 Seiten | 22 Euro
VERLEIHUNG DES TUKAN-PREISES 2018
Literaturhaus| Salvatorplatz 1 | 5. Dezember, 19 Uhr
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