Seine Morisken kennt jeder, umso schwieriger ist es, Erasmus Grasser zu fassen. Das Bayerische Nationalmuseum widmet dem vor 500 Jahren gestorbenen Bildhauer die erste große Ausstellung überhaupt.
Gute alte Bekannte schaut man nicht mehr so genau an. Deshalb sind es vor allem Touristen, die im Münchner Stadtmuseum vor den Morisken stehen und bewundernd den Blick kreisen lassen. Dabei tragen die weder Lederhosen noch Trachtenhüte, Schuhplatteln sieht auch anders aus, aber in jedem Reiseführer werden die gelenkigen Kerle als typisch münchnerisch angepriesen. Und selbst diejenigen, die mit Kunst so gar nichts am Hut haben, bemerken das Außergewöhnliche: diese unerhörten Verrenkungen und exaltierten Gesten, die Anspannung kurz vor dem Sprung, die unglaublich raffinierten Kostüme und überhaupt die Exotik.
Man vergisst die gauklerhaften Tänzer nicht mehr – den galanten Hochzeiter, diesen gelockten Schönling, der sicher bei den Damen gut ankam, oder den Zauberer mit seiner imposanten Löwenkopfmütze und den flatternden Ärmeln. Das ging den Münchnern um das Jahr 1480 kaum anders, als sich der Oberpfälzer Erasmus Grasser mit vermutlich 16 dieser Figuren für weitere Großaufträge empfahl. Die Jahrhunderte überlebt haben zehn Exemplare, doch nur die Hälfte durfte aktuell vom Stadtmuseum an die Prinzregentenstraße ziehen. Und das ist gerade in diesem Fall sehr bedauerlich, bei näherer Betrachtung auch ein bisschen kleinkariert. Denn das Bayerische Nationalmuseum richtet tatsächlich die erste Überblicksschau aus – 500 Jahre nach dem Tod des Künstlers, an dessen Qualität keiner zweifeln wird. Schon gar nicht an seiner Bedeutung für München und Süddeutschland.
Dafür hat sich mit dem Diözesanmuseum Freising ein anderer, mehr als großzügiger Partner für diese längst fällige Präsentation gefunden. Und wenn Kirchenleute ihre Beziehungen nach oben spielen lassen, geschehen gelegentlich Wunder: Der fabelhaft restaurierte Heilig-Kreuz-Altar aus München-Ramersdorf ist hier bis ins kleinste Detail zu studieren. Aber nur bis Mitte Juli, dann muss dieses um 1482 entstandene, besonders erzählfreudige Ergebnis der ZusammenarbeitGrassers mit dem Malerkollegen Jan Polack zurück in die Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt. Wobei Ramersdorf auch nicht aus der Welt ist. Der eigentliche Kraftakt bestand allerdings darin, dass man sich in der Peterskirche vom imposanten, geradezu barock anmutenden Petrus und in der Frauenkirche von der aufwendigen Figurenausstattung des Chorgestühls getrennt hat. Und dieses durchaus kostspielige Opfer macht wirklich Sinn, denn im Nationalmuseum kann man nun wirklich vergleichen undgewinnt in dieser Konzentration auch als Laie einen Blick für die Eigenheiten des Bildhauers. Doch selbst in Fachkreisen gibt es einigen Nachholbedarf, die erste Grasser-Monografie erschien erst 1928, vorgelegtvom damaligen Generaldirektor des Nationalmuseums, Philipp Maria Halm, für den etwa dieMorisken »die unvergleichlichen Verkörperungen ausgelassenster Lebensfreude« und »eine unvergleichliche Wundergabe deutschen Humors« waren. Der muss an den Nazis unbemerkt vorbeigerauscht sein, als sie die Figuren nur fünf Jahre später bei der pathosgeladenen Grundsteinlegung des »Hauses der Deutschen Kunst« und dann bei diversen Festzügen zur Schau stellten.
Verglichen mit Tilman Riemenschneider oder Michel Erhart ist im Fall des um 1450 geborenen Grasser jedenfalls noch einiges zu tun. Und es dürfte auch noch ein paar Zuschreibungen geben wie beim bislang wenig beachteten heiligen Erasmus aus dem Museum Erding (um 1490/1500). Mit seiner kräftigen Kinnpartie und den leicht hervortretenden Augen kann er Grasser kaum verleugnen. Genauso deutet das Spiel der Hände, wie hier das beherzte Hineingreifen in ein Buch, auf den Münchner Meister. Grasser reizt der Ausdruck. Das höfisch Elegante ist nicht seine Sache, und auch die jungfräulich braven Madonnen mit ihren niedlichen Jesusknaben interessieren ihn sehr viel weniger als die Charakterköpfe betagter Männer. Das demonstrieren gerade die zwischen 1495 und 1502 entstandenen Propheten, Apostel, Evangelisten und Kirchenlehrer aus dem Liebfrauendom. Erst aus der Nähe erfasst man, welches Repertoire an Physiognomien Grasser aufbieten kann, dass er Holzmaserungen für Falten und Fältchen nutzt, wie sehr diese Vertreter des Alten und des Neuen Testaments in teils intensive Dispute vertieft sind und doch jeweils für sich wirken.
Vor diesem Hauptwerk kann man nur zu gut verstehen, dass Mitglieder der Maler- und Schnitzerzunft den jungen Grasser 1475 in einem Schreiben an den Rat der Stadt München als »unfridlichen, verwornen und arcklistigen Knecht« diffamiert haben. Die um ihre Einkünfte besorgten Meister werden schnell begriffen haben, wie sehr der selbstsicher auftretende Eindringling aus Schmidmühlen sein Handwerk beherrschte. So einen hält man besser auf Abstand. Doch der Konkurrent war freilich nicht aufzuhalten und wohnte bald schon an der Dienerstraße zwischen den großen Kirchen und in Reichweite seiner potenten Auftraggeber. Ums Eck im Alten Hof residierte der macht- und prachtbewusste Herzog Albrecht IV., einen Katzensprung weiter tagten die Stadtoberen im Tanzhaus, dem heutigen Alten Rathaus, für das die üppig bezahlten Morisken bestellt wurden.
Aber woher kam dieser innovative Kopf, der eindringlich leidenden Christusfiguren und verklärten Heiligen etwas (be)-greifbar Irdisches geben konnte? Dessen derbgesichtige Schächer uns dreist den Hintern entgegenstrecken und bei dem selbst das Nebenpersonal anrührende kleine Geschichten erzählt? Beim Vergleich der regionalen Eigenheiten drängt sich die Ulmer Schule auf, man denke etwa an Hans Multscher in der Generation davor. Kurator Matthias Weniger sieht außerdem Bezüge zum international agierenden Starbildhauer Niclas Gerhaert, und hier könnten zwei Kirchen im Schwäbischen eine Art Scharnier bilden: In St. Georg bei Nördlingen hat Gerhaert bis 1462 den Hochaltaraufsatz geschaffen, zehn Jahre später dürfte Grasser in St. Blasius in Bopfingen am Werk gewesen sein; die Figuren legen es auf jeden Fall nahe. Leicht möglich, dass der längst in Wien engagierte Gerhaert den talentierten Grasser vermittelt hat und der sich auf diese Weise seine ersten Meriten verdienen konnte. Gerhaert starb übrigens 1473, die Werkstatt löste sich auf und die hochversierten Mitarbeiter waren auf der Suche nach neuen Posten und Aufgaben. Auch das würde die panische Reaktion der Münchner Zunftmeister erklären. ||
BEWEGTE ZEITEN. DER BILDHAUER ERASMUS GRASSER
Bayerisches Nationalmuseum München| Prinzregentenstr. 3
bis 29. Juli| Di bis So 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr
Führungen: 19. Juli, 17 Uhr; 22. Juli, 11 Uhr; 29. Juli, 11 Uhr | Kuratorenführungen: 15. Juli, 14 Uhr; 26. Juli, 18 Uhr; 29. Juli, 14 Uhr
Der prächtige Katalog mit eindrücklichen Fotoaufnahmen (Hirmer, 408 S., 405 Abb.) kostet im Museum 39 Euro
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