Die Opernfestspiele leisten sich mit Nikolaus Brass’ »Die Vorübergehenden« eine brillant irritierende Uraufführung.
Faszinierend ist die Beiläufigkeit, mit der das Team der »Vorübergehenden« die Gewohnheiten des Musiktheaterkonsums in Frage stellen. Sieben Bühnen dezentralisieren in der Reithalle die optische und akustische Wahrnehmung. Das Publikum bekommt Hocker in die Hand gedrückt, mit der Anweisung, sich irgendwo niederzulassen. Im Laufe des Spiels wird es gestisch aufgefordert, sich mit den Sängern und Musikern durch den Raum zu bewegen, die ihrerseits sich nicht auf die zugewiesenen Bühnen beschränken, sondern durch den Raum wandeln, schreiten, laufen. Kameras und Projektoren picken einzelne Szene heraus und zeigen sie an den Hallenwänden.
Die Figuren existieren in mehreren Altersstufen gleichzeitig, biographisches Erzählen trifft auf poetische Verschlüsselung, Linearität auf Gleichzeitigkeit. Das Kleinbürgeridyll des »Liebenden« (Nikolay Borchev / Joshua Owen Mills), gedanklich verwurzelt in Wirtschaftswundereinfalt, kollidiert mit Sinnfragen des Seins, der emotionalen Erkenntnis, der erlebenden Lebens. Ein »Flüchtling / Reisender« (Ilker Arcayürek) irritiert die Personenkonstellation als Vertreter der Außenwelt, der »Schatten« (Vasily Kharashev) ist zugleich Conférencier, Gewissen und Mephistopheles des Liebenden, das Elternpaar (Ulrike Helle / Wolfgang Newerla) ein tragikomisches Erinnerungskonstrukt, die »Liebende« (Sarah Maria Sun) die eigentlich Souveräne, aber letztlich ebenso einsame Zweitprotagonistin. Das Ganze wird von Musik geleitet, die ihre Spannung aus dem Harmonischen und Dynamischen zieht, statisch wirkt und trotzdem Entwicklung zulässt. Es ist eine von Regisseur Ludger Engels zusammen mit dem Komponisten Nikolaus Brass erarbeitete Überforderung der Wahrnehmungsmöglichkeiten, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mit beeindruckender Klarheit in eine Inszenierung packt. Und damit wird die Gedankenoper »Die Vorübergehende« zu einem umfassenden Musik/Theatererlebnis, das diese Bezeichnung auch wirklich verdient.
NIKOLAUS BRASS: DIE VORÜBERGEHENDEN
Reithalle, weitere Termine: 16. / 21.7., jeweils 20:30
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