Marco Goecke kreiert für das Gärtnerplatz-Tanzensemble »La Strada«, nach Federico Fellinis Film und zu Nino Rotas Ballettsuite.
Einfach anders – das ist Marco Goecke. Er ist der Surrealist unter den Tanzschöpfern des 21. Jahrhunderts. Ein Max Ernst der Choreografie? Die Surrealisten in der Malerei erfanden neue kreative Techniken, ihre Inhalte richteten sich auf das Unbewusste, auf den Traumzustand. Die Wirkung ihrer Bilder ist geheimnisvoll, absurd, poetisch. Ganz ähnlich wie Nijinsky sich aus seiner klassischen Schule ohne jeden schmiegsamen Übergang 1913 in die stampfenden Rhythmen seines »Sacre« stürzte, so überspringt Goecke ab 2003 die Neoklassik, die Kyliánsche Moderne, das Tanztheater und die verschiedenen körperintensiven zeitgenössischen Stile, um uns mit einem so noch nie gesehenen naturhaft flatternden, ruckenden, zugleich mysteriös reduzierten Bewegungsgebilde zu konfrontieren. Aber es ist keine sich in ihrer Neuartigkeit sonnende Form, kein kühl-eitler Formalismus. In diesen nachtschattigen Bühnengeschehnissen begeben sich Menschen auf eine Traumreise zu ihrem Inneren. Und eben dieses »uns selbst Verwandte« ist es, weshalb Marco Goeckes Werke weltweit gefragt sind. Gerade arbeitet er auf Einladung von Gärtnerplatz-Tanzchef Karl Alfred Schreiner an einer Kreation: »La Strada« nach Federico Fellinis Meisterwerk von 1954, das mit Anthony Quinn und Fellinis Ehefrau Giulietta Masina in den Hauptrollen Filmgeschichte schrieb. Premiere ist am 12. Juli.
»Die Idee kam von Karl«, beginnt Goecke unser Gespräch. »Ich fand sie spannend, bleibe auch der Vorlage treu, verwende sogar, wenn auch gestückelt, die Musik von Nino Rota (Rota adaptierte 1966 seine Filmmusik zu einer Ballettsuite; die Red.). Aber es sind schon Sachen drin, die mir gehören.« »La Strada«, Fellinis letzter Film im Genre des italienischen Neorealismus, erzählt die Geschichte des ungeschlachten fahrenden Schaustellers Zampanò und seiner einfältig-gutwilligen Assistentin Gelsomina, die er ihrer Familie für 10 000 Lire abkaufte: Figuren am untersten Rand der Gesellschaft. »Ja, das passt schon gut zu mir«, reagiert Goecke sofort. »Diese armen Würschtel, das hat auch was Glamouröses. Der Obdachlose hat ja auch seine Würde. Und der Überlebenswille ist überall der gleiche, ob arm, ob reich … Ja, das Arme hat auch seine Schönheit.« Genau diese Schönheit leuchtet aus Fellinis filmischen Bildern, die den Einfluss des französischen poetischen Realismus verraten. Was dem Regisseur damals den Vorwurf der marxistischen Kritik einbrachte, dass soziale Realität in »La Strada« nicht vorkomme.
Neorealistisch auf der emotionalen Ebene ist der Film durchaus. Zampanòs rohe Behandlung der naiven, aber sensiblen Gelsomina, seine Verdrängung jeglichen Gefühls ist ein aus existenzieller Not erwachsener Schutzmechanismus. Erst ganz am Ende, als er, ausgebrannt durch ein hartes Wanderleben, völlig unerwartet vom Tod Gelsominas erfährt, bricht er weinend zusammen. »Zampanò hat sie geliebt. So haben wir es angelegt. Ihm wird jetzt bewusst, dass ein Mensch verloren, eine Chance vertan ist«, verrät Goecke seine Deutung und gibt gleich zu, den Film eher im Fluge angeschaut zu haben: »Ich will mir noch eine Offenheit bewahren. Ich frage dann während der Erarbeitung im Ballettsaal meine Ballettmeister ›Was passiert jetzt?‹ Es ist bei mir der Instinkt des Augenblicks – und immer ein freier Fall. Ein Freund von mir nennt das ›unprofessionell‹. Ich selber finde es wunderbar – obwohl ich mich so malträtiere und danach geschafft bin. Andererseits macht es mich traurig, dass ich so wenig aus der Sachlage lerne, dass ich mir nicht auch mal auf die Schulter klopfen kann.«
Marco Goecke, und das ist so angenehm erstaunlich, antwortet aus dem Verfertigen seiner Überlegung heraus, ganz ohne zelebrierendes Formulieren. Und nie klingen da irgendwo im Hintergrund die Erfolge in Tel Aviv, São Paulo, Montréal, Rotterdam, Den Haag und Wien, die zahlreichen Auszeichnungen, die über sechzig geschaffenen Werke durch. Für eine ganze Reihe war Michaela Springer die Ausstatterin, immer »eingefühlt« auf den Choreografen, auf seinen Wunsch nach freiem Raum. Umso überraschender die Bildwirkung, wenn Objekte ins Spiel kommen, wenn die Tanzfläche regelrecht geflutet wird von schwarzen Luftballons wie in Goeckes Stuttgarter Kreation »Sweet Sweet Sweet« von 2005, die 2008 vom Gärtnerplatz-Tanzensemble unter Henning Paar übernommen wurde. Wenn man Goecke richtig versteht, wird er, wieder zusammen mit Springer, Fellinis poetisch-realistische Landschaften mit einer leeren Bühne übersetzen: »Dann nur so einen Menschen hinzustellen, das zu wagen, ist ein Wahnsinn. Aber dieser Mensch, dieser Tänzer erzählt etwas, füllt den Raum, färbt ihn ein«, sinniert Goecke fast für sich.
»Und sein Tanzen muss den Hinweis geben, was innen in ihm los ist. Das herauszubringen treibt mich an. Die Frage ist ja: Hat man etwas zu erzählen oder nur Spaß, die Zeit mit Bewegung zu füllen? Es geht doch darum, etwas Unaussprechliches zumindest erahnbar zu machen. Erklären kann man es letztlich nicht.« Marco Goecke ist anders: nicht nur in seinem Stil, auch in der im Grunde tanzfremden Herangehensweise ans Choreografieren. Schaut er immer noch Fernsehen rauf und runter? »Ja, auch jetzt noch«, sagt er. »Einmal muss ich wissen, was in der Welt vor sich geht. Aber ich bin ja auch immer auf der Suche. Und jeden Tag sehe ich was, was ich gebrauchen kann. Manchmal überlade ich mich auch. Aber aus dieser Ereignis- und Faktenschwemme filtert sich dann doch heraus, was in eine Arbeit Eingang findet.«
Marco Goecke ist ein umgänglicher Mensch. Rebellisch, hat er zugegeben, war er als Student an der Münchner Ballettakademie/Heinz-Bosl-Stiftung und wohl auch bei seinem ersten Tänzer-Engagement in Hagen. Aber tief drinnen ist er sanftmütig. Und verletzlich. Als Tamas Detrich, ab 2018/19 neu antretender Stuttgarter Ballettchef, letzten Juli nach 13 Jahren Goeckes Vertrag als Hauschoreograf nicht verlängerte, war das ein nicht zu beherrschender Schmerz. Die Verabschiedung bedeutete keine existenzielle Gefährdung. Goecke ist seit 2013 dem Nederlands Dans Theater und jetzt auch dem Stuttgarter Gauthier Dance als ständiger Choreograf verbunden. Gleich im Herbst steht auch eine Kreation für das Ballett der Pariser Oper an. Die Trennung von Stuttgart bedeutet für ihn aber den Verlust von etwas, das er aufgebaut hat, den Verlust der Zuwendung und des Vertrauens des Ensembles – seiner künstlerischen Heimat. Vielleicht war diese ungewollte »Stuttgarter Scheidung« für den jetzt 45-Jährigen letztlich doch die richtige Schicksalsfügung: Ab 2019/20 ist Marco Goecke unter Hannovers designierter Staatsopernintendantin Laura Berman sein eigener Herr. »Ich habe lange überlegt«, sagt Goecke. »Freiheit ist ja auch was wert. Aber so kann ich auch mal meine eigene Familie haben.« Man ist gespannt auf seine erste Ballettleitung, seine Pläne, junge Choreografentalente zu fördern, wie man auch gespannt ist auf seinen Tanz vom »Lied der Straße«. ||
LA STRADA
Gärtnerplatztheater| 12., 14., 17., 23. Juli | 19.30 Uhr | 15. Juli
18 Uhr | Tickets: 089 21851960
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