Freiheit, Menschenwürde, Rechtssicherheit und der Schutz der Natur, überall auf der Erde und für alle. Um dies zu erreichen, plädieren der ecuadorianische Ökonom Alberto Acosta und der Wiener Professor für Internationale Politik Ulrich Brand für den globalen Dialog und fundamentale Änderungen.

Müssen wir wirklich mit dem leben, was der Kapitalismus und seine Wachstumsideologie auf der Erde anrichtet? Müllberge, Zerstörung der Natur durch den Abbau von Primärressourcen, menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse für die Produktion von Billigware, Rentner, die trotz lebenslanger Arbeit zuverdienen müssen, um über die Runden zu kommen. Der Wirtschaftsprofessor Alberto Acosta und der Politologe Ulrich Brand versprechen in ihrem Buch »Radikale Alternativen« einen Ausweg aus dem »Labyrinth des Kapitalismus«. Sie rufen dazu auf, die vorhandenen Gegenentwürfe aus dem globalen Süden und Norden zusammenzudenken.(Leider tun sie das in etlichen Passagen im fremdwortgespickten Akademikerjargon.)

Der Kapitalismus, so ihre Grundthese, ist nicht in der Lage, weiten Bevölkerungsgruppen ein gutes Leben zu garantieren. Und je virulenter die Kosten für die Ausbeutung von Mensch und Natur werden, desto autoritärer müssen die Staaten agieren, um die Widerstände im Zaum und das Kapital zusammenzuhalten.Die Bewegungen des globalen Nordens und des globalen Südens, die ein »gutes Leben« als Ziel für die gesamte Menschheit anstreben, müssen sich zusammentun. Sie heißen in Europa »Degrowth«, auch »Wachstumsrücknahme« oder »Postwachstum«, und in Lateinamerika »Postextraktivismus«. Gemeint ist damit das Ende des Raubbaus auf Kosten indigener Bevölkerungen und der biologischen Vielfalt und Nachhaltigkeit. Doch schon diese Begriffe selbst sollten überwunden werden, weil sie im Jammerstatus verharren, weil sie im Wort führen, was wir nicht wollen. Gebraucht werden jedoch positive Begriffe mit einer positiven Vision, die ihre Anziehungskraft auf weite Teile der Weltbevölkerung entfalten können.

Begriffe wie »Buen vivir« (Gut leben) etwa oder »Bien Común de la Humanidad« (Gemeinwohl der Menschheit) bzw. »solidarische Lebensweise« kursieren bereits. Sie beinhalten, dass allen Menschen ein Leben in Freiheit und voller Menschenwürde in einer sozialen und natürlichen Umgebung zusteht, mit Verpflichtungen, aber ohne Zwänge. Diese Entwürfe, schreiben die Autoren, »wären integraler Bestandteil von Gesellschaften, in denen Macht und Herrschaft eingehegt sind, in denen Konflikte gut und entlang von Problemen und nicht als Machtfragen ausgetragen werden.« Wie schwierig das ist, zeigt allein die Glyphosat-Debatte. »Der Umbau der Nahrungsmittelproduktion und des Ernährungssystems wertet die lokale und regionale Ebene auf, doch dazu müssen die mit unglaublicher Macht ausgestatteten Global Player in den Bereichen Landwirtschaft, Saatgut und Agrarchemikalien, Lebensmittelverarbeitung, Supermärkte entscheidend geschwächt werden«.

Die Autoren betonen, dass wir beim Neudenken unserer Wirtschafts- und Lebensform nicht allzu sehr auf den Staat hoffen sollten. »Der Staat«, so lautet ihre Warnung, »reproduziert und konsolidiert tendenziell die bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die große Transformation, die diese Art von revolutionären Vorschlägen fordert, braucht die Teilnahme von politischen Organisationen und sozialen Bewegungen aus der ganzen Welt.« Die Zivilgesellschaft ist also gefragt, Visionen eines guten Lebens zu entwickeln und global durchzusetzen.Die jüngste Lateinamerikakonferenz hat gezeigt, wie rasch die Hoffnungen auf eine Erneuerung von rein staatlicher Seite zerstoben sind. Einige progressive Regierungen Lateinamerikas wollten die sozialen und ökologischen Probleme, die die Ausbeutung von Primärressourcen für die Bedürfnisse des globalen Nordens geschaffen haben, angehen. Doch die Abhängigkeit von Rohstoffexporten war zu fundamental, die Macht der Konzerne und der wirtschaftliche Druck zu groß. Die Regime sind wieder autoritärer geworden, um das Kapital zu halten, wo es ist.

Doch die Debatte darf sich weder allein auf Verteilungsfragen verengen, so die Autoren, noch darf die Realität als etwas hingenommen werden, das angesichts der Komplexität weltweit kaum zu verändern ist. Wir brauchen »andere Vorstellungswelten […] und deren Entstehung sind zentral für Veränderungen.« Anders ausgedrückt: Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, sind Visionen ohne ideologische Verengung nötig, ohne »einen Masterplan oder eine einzige gültige Strategie zu erstellen«. Es handelt sich keineswegs darum, einfach nur Bedürfnisse einzuschränken, auf Konsum zu verzichten, sondern unsere Haltung den Menschen, den Dingen und der Natur gegenüber zu verändern. Menschen und Natur nicht mehr als Ressourcen für monetären Gewinn und Wirtschaftswachstum zu betrachten, sondern als schützenswertes Gut.

Dass die Postextraktivismus-Debatte Lateinamerikas angesichts der sozialen und ökologischen Probleme vor Ort auch mit einer deutlichen Kritik an den Machtverhältnissen verknüpft ist, verwundert kaum. Die Degrowth-Bewegung nimmt sich dagegen sehr defensiv aus. Fragen von Gerechtigkeit und Befreiung spielen (noch?) keine große Rolle. Hier geht es eher darum, vor irreversiblen Umweltschäden und Katastrophen zu warnen. In lateinamerikanischen Ländern sind die sozialen Schäden, die der globale Kapitalismus anrichtet, eben auch deutlicher sichtbar. Die Ressourcenausbeutung soll mit möglichst geringen Kosten einhergehen, um die Gewinne (für wenige) zu maximieren. Die realen Kosten dagegen werden vergemeinschaftet. »Wenn aber vorgeschlagen wird«, führen die Autoren den Gedanken weiter, »die Ausbeutung der Natur im Hinblick auf die Akkumulation von Kapital zu überwinden, muss die Ausbeutung des Menschen erst recht überwunden werden. Gleichzeitig wird es notwendig sein zu erkennen, dass Menschen keine isolierten Individuen sind, die lediglich zu einer Gemeinschaft gehören, sondern dass sie eine Gemeinschaft sind; und dass diese Gemeinschaften, die sehr unterschiedlich organisiert sind, ebenfalls in harmonischer und respektvoller Verbindung zueinander stehen sollten.« Es geht also um nichts weniger als um die »volle Gültigkeit der Menschenrechte […] in enger Verbindung mit den Rechten der Natur.«

Auch wir Privilegierten der Nordhalbkugel ahnen längst, dass wir auf dem Holzweg sind, halten es aber noch immer für kritische Rationalität, Falsches zu beschönigen und das Richtige für falsch, naiv oder utopisch anzusehen. Noch halten die meisten Parteien Wirtschaftswachstum für die Grundbedingung von Wohlstand. Wenden wir doch unsere Energien dem Leben und Visionen unserer Zukunft zu, statt sie an das Kapital, seine Vermehrung und den Untergang unserer Spezies zu verschwenden.||

ALBERTO ACOSTA, ULRICH BRAND: RADIKALE ALTERNATIVEN. WARUM MAN DEN KAPITALISMUS NUR MIT VEREINTEN KRÄFTEN ÜBERWINDEN KANN
Oekom, 2018 | 192 Seiten | 16 Euro

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