Die Meldung kam überraschend und löste Staunen aus: Elisabeth Tworek verlässt die Monacensia und erfindet sich als Kulturchefin beim Bezirk Oberbayern noch einmal neu. Der bequeme Weg ist das nicht. Ein Porträt auf der Suche nach dem Warum.
Was treibt eine Frau mit Anfang sechzig, einen der schönsten Posten, die die Stadt München zu bieten hat, aufzugeben? 24 Jahre lang war Elisabeth Tworek Leiterin der Monacensia. Es ist ihr gelungen, die Sanierung des Hildebrandhauses, in dem das »literarische Gedächtnis« der Stadt München untergebracht ist, so zu konzipieren, dass es für Wissenschaftler nahezu perfekte Arbeitsbedingungen bietet und für den Bürger von nebenan ein offenes Haus ist. Sie hat während des Umbaus in Stadt und Umland zahlreiche Veranstaltungen organisiert und die Monacensia auch »im Exil« im Kulturleben lebendig gehalten. Es ist gerade mal ein gutes Jahr her, dass das Haus nach mehrjähriger Bauzeit seinen Alltagsbetrieb aufnehmen konnte. Zwei, drei Jahre noch, die Tworek nach der Neukonzeption von Bibliothek, Archiv und Dauerausstellung hätte genießen und gestalten können. Die Ausstellung über die Revolution von 1919 mit den jüdischen Autoren, die zu den Hauptfeindbildern der Nationalsozialisten wurden, sagt sie, hätte sie gerne noch gemacht. Was treibt sie also, als Chefin der Kulturabteilung zum Bezirk Oberbayern zu wechseln?
Wir treffen Elisabeth Tworek noch in ihrem alten Büro im Hildebrandhaus. Über der Tür hängt einHalbrelief, ein Engel des Bildhauers Adolf von Hildebrand, des ehemaligen Hausherrn. Die Leihgabe der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wird sie hierlassen müssen, aber das riesige Gemälde mit dem breiten Silberrahmen, das kraftvolle andalusische Stiere zeigt, kommt mit. Man sieht ihr Stolz und Freude deutlich an, als sie erzählt, dass ihr das Bild ein ehemaliger Schüler anvertraut hat, der später Kunst studierte. Und diese kleine Episode birgt schon den ersten Ansatz einer Erklärung. Denn Elisabeth Tworek begann ihre Karriere nach dem Studium von Deutsch, Geschichte und Sozialkunde als Lehrerin. Auch wenn dies zunächst eine pragmatische Entscheidung war – ursprüngliches Ziel war die Wissenschaft –, die pädagogische Aufgabe hat sie durchaus begeistert. Und wieder blitzen die Augen. »Bildung und Kultur zusammenzubringen, daran mangelt es«, sagt sie. Dabei sei dies der Schlüssel für den sozialen Frieden. Schließlich hatte sie selbst ein großes Vorbild in dieser Hinsicht, den eigenen Deutschlehrer. Bis heute ist sie ihm verbunden, und so wie er bis zum Jahr 1976 im Gemeinderat von Murnau saß, wirkt auch sie ebendort als Gemeinderätin und Kulturreferentin. Hier ist die »Oberlandlerin« groß geworden, hier sind ihre mütterlichen Vorfahren seit Jahrhunderten verwurzelt. Der heute 82-jährige Lehrer freilich, der als neunjähriges Flüchtlingskind aus Oberschlesien barfuß in Murnau ankam und ebenfalls dort aufwuchs – der Vater gefallen, die Geschwister kriegstraumatisiert –, musste 1976 den Gemeinderat wieder verlassen. Er hatte sich in einer Diskussion um Horváth zu weit aus dem Fenster gelehnt, und plötzlich war er wieder der Fremde, von dem man sich nichts sagen lassen wollte. Bis heute hat dieser Bruch bei ihm bittere Spuren hinterlassen. Und auch diese Geschichte erklärt Elisabeth Tworeks Motivation, noch einmal eine neue, große Aufgabe anzugehen:ernst zu nehmen, was Ausgrenzung für jeden einzelnen Menschen bedeutet, wie sie ein ganzes Schicksal prägt – und mit kultureller Arbeit gegenzusteuern. Einen offenen Heimatbegriff zu etablieren. Denn Heimat ist für sie etwas Subjektives, Seelisches: der Bezug und der Ort, »wo einem gar nichts egal ist«.
Wo kommt es her und warum ist es so?
Dass die Aufgaben, die im Bezirk auf sie warten, sehr disparat sind, reizt sie eher: Sie wird für verschiedene Heimat- und Psychiatriemuseen ebenso zuständig sein wie für das Volksmusikarchiv und den Popularmusikbeauftragten, für Förder- und Berufsfachschulen wie für Kulturpreise und Förderpreise für Kunst. 20 Landkreise und drei Städte umfasst der Bezirk. Und sie wird über ein Budget von ca. 10 Millionen Euro Vermögenshaushalt und über 265 Stellen verfügen, mit einem Verwaltungshaushalt von noch einmal 25 Millionen Euro. Hat die 63-Jährige denn überhaupt noch genug Zeit, Weichen zu stellen? Fünf Jahre, so lautet die Antwort, nehme sie sich vor, in dieser Frist könne man eine Menge bewegen.
An ihrer Qualifikation wird kaum jemand zweifeln. Schon ihre Doktorarbeit, die sie bei Kurt Sontheimer am Geschwister-Scholl-Institut vorgelegt hat, ist passenderweise eine Mentalitätsgeschichte. Eine sozialwissenschaftliche Arbeit, die anhand der Literatur untersucht, was in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus in den Köpfen der Menschen vor sich ging. Auch diese Herangehensweise zieht sich durch ihr Leben und ihre Arbeit: Immer die Frage zu stellen, wo kommt das her, was sich gerade tut, wie und warum hat es sich so entwickelt? Wer so von den Wurzeln her denkt, sich in dieser Weise unserer Geschichte verpflichtet fühlt, kann vielleicht wirksame Maßnahmen entwickeln, um ein spürbares Gegengewicht gegen demokratiemüde Tendenzen zu setzen.
Ihre Arbeit als Leiterin der Monacensia spricht dafür. Den Spagat zwischen hochwissenschaftlicher Archivarbeit und niedrigschwelligem Bildungsangebot hat sie geschafft. Die Monacensia versammelt die Nachlässe etwa von Klaus und Erika Mann, dazu von Thomas Mann über 800 Briefe und Manuskripte, die Nachlässe von Frank Wedekind, Franziska Reventlow, Ludwig Thoma, Lena Christ, Annette Kolb, Grete Weil und Bestände von Gisela Elsner und Herbert Achternbusch. In jüngster Zeit hat die Monacensia den Nachlass von Dieter Hildebrandt und Willy Purucker erworben. Tworek hat die Sammlung über die Jahre um Nachlässe von zahlreichen Schriftstellerinnen erweitert, deren Karriere die Nazis ein jähes Ende gesetzt hatten und die nun vor dem Vergessen bewahrt werden. Die aktuelle Ausstellung »Evas Töchter. Münchner Schriftstellerinnen und die moderne Frauenbewegung. 1894–1933« (siehe S. 29) gibt davon ein beredtes Zeugnis. Mit dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach hat sie eng zusammengearbeitet und vorausschauend empfohlen, dass die Monacensia dieselbe Software verwendet und damit »in einer ganz anderen Liga spielt«. Immer mit dem Ziel, »dass der Originalbestand bestens gepflegt wird und für alle zugänglich ist«, hat sie sich beim Nachlasserwerb öfter mit der Bayerischen Staatsbibliothek kurzgeschlossen. »Bei Oskar Maria Graf teilen wir uns den Nachlass. Dafür haben wir das Literaturportal Bayern mit dem Modul Archiv, wo dann alles wieder eins ist.« Ein besonderes Anliegen waren ihr die Nachlässe von Volkssängern, Bally Prell gehört dazu, Liesl Karlstadt, Erni Singerl oder später Jörg Hube. Elisabeth Tworek sucht neben der Hochkultur das Gegengewicht in der Volksliteratur und in der Volkskultur bis zurück in die dreißiger Jahre und noch weiter.
»Nur beides macht die Kultur aus, in der wir heute leben.« Dieser pragmatische, sachorientierte, erfrischend uneitle Ansatz hat das Literaturarchiv zu dem gemacht, was es heute ist: eine international renommierte Forschungsstätte – nicht nur zur Familie Mann. Gleichzeitig hat sie das Haus mit zahllosen Veranstaltungen auf der Basis eines weiten Kulturbegriffs für alle geöffnet. Wieder sprudelt sie geradezu vor Begeisterung, als sie von einer interkulturellen Veranstaltung Ende Februar im Hildebrandhaus erzählt: »Hier hat die Traudi Siferlinger achtzig Leute zum Jodeln gebracht. Die kamen aus der ganzen Welt, unterschiedlichste Hautfarben, unterschiedlichste Dialekte, alles war vertreten, Männer, Frauen, alles, alle Altersgruppen. Und die Siferlinger hat angefangen, ›Jetzt jodeln wir‹, und das hat geklappt!«
»Alles, was schwierig ist, ist letztlich gut für einen«
Bleibt eine Frage noch offen: Gibt es neben den kulturpolitischen neuen Herausforderungen doch noch ein Forschungs- oder Buchprojekt, an dem ihr Herz hängt? Die Antwort folgt prompt: »Die Horváth-Biografie ist das Buchprojekt, das ich noch fertig machen will, so es mir vergönnt ist und ich gesund bleibe. Im eigenen Bestand der Monacensia habe ich kein Thema, wo ich sagen würde, das hätte ich jetzt gern gemacht und komme nicht mehr dazu. Aber der Horváth, der hat mich nie losgelassen.« Denn eigentlich wollte sie ihre Zulassungsarbeit zunächst über den Dichter und Revolutionär Ernst Toller schreiben, aber Wolfgang Frühwald riet ihr Ende der siebziger Jahre zur Aufarbeitung von Horváths Murnauer Zeit, über die es noch kein Material gab. Das hat ihr Leben verändert: »Alles, was schwierig ist, ist letztlich gut für einen«. So hat sie die damals noch lebenden Zeitzeugen dieser politisch unrühmlichen Murnauer Jahre 1923–1933 interviewt. 1988 konzipierte sie in Murnau die erste Horváth-Woche und gestaltete später die Dokumentation im Murnauer Schloßmuseum. Wieder ein Kreis, der sich schließt.
Elisabeth Tworeks Ziel für ihre neue Aufgabe: »Dass ich mich sehr differenziert ums Detail kümmere und das Große und Ganze gleichzeitig nicht aus dem Auge verliere.« Ein Lebensziel – das hat sie in ihrer erstaunlich geradlinigen Biografie immer wieder bewiesen. Plötzlich erscheint auch ihr Wechsel auf einen Job, wo sie weniger mit Literaten, Wissenschaftlern und Künstlern, sondern mehr mit Politikern, Trachtlern und Volksmusikern zu tun haben wird, einem Job freilich, bei dem es in Sachen Kultur verantwortungsbewusst ums Große und Ganze geht, von bestechender innerer Logik. ||
ELISABETH TWOREK, geboren 1955, ist in Murnau aufgewachsen. Die Mutter stammte aus einer bäuerlichen Familie, die seit Jahrhunderten in Obersöchering nahe Murnau ansässig war, der Vater aus Oberschlesien. Er war gegen Kriegsende in Oberbayern gestrandet und wurde landwirtschaftlicher Berufsschullehrer. Nach Studium und Promotion arbeitete sie als Gymnasiallehrerin sowie als freie Mitarbeiterin beim Bayerischen Rundfunk und Fernsehen. Von 1992 bis 1994 war sie Sachgebietsleiterin der Literatur im Kulturreferat München, seit 1994 Leiterin der Monacensia Bibliothek und Archiv. Sie hatte seit 1996 Lehraufträge an der LMU und war von 2007 an als Schatzmeisterin im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten. Seit vier Jahren ist sie parteilose Gemeinderätin für die SPD in Murnau.
Das könnte Sie auch interessieren:
Dieter Wieland: Alle Filme in der BR-Mediathek
»Kafka: 1924« in der Villa Stuck
Dana von Suffrin: Der Roman »Nochmal von vorne«
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton