Timofei Kuljabin verfremdet im Cuvilliéstheater »Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag« von Warlam Schalamow.
Kann man sich im prachtvollen Rokoko-Rahmen des Cuvilliéstheaters das Grauen eines sibirischen Straflagers vorstellen? Der Regisseur Timofei Kuljabin wagt das. Er inszenierte »Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag« des hierzulande weitgehend unbekannten Schriftstellers Warlam Schalamow. Kuljabin, 33, gilt als Regie-Shootingstar, er leitet in Nowo sibirsk das Theater Rote Fackel, seine »Tannhäuser«-Inszenierung wurde verboten. Für ihn war’s eine »Kulturmission«, das Werk Schalamows bekannt zu machen, und das ist ein großes Verdienst der Uraufführung. Schalamow (1907–1982) war 17 Jahre in Lagerhaft, 14 davon (1937–1951) in der Sibirien-Region Kolyma. Sie ist der Kältepol mit Temperaturen bis 60 Grad unter null. Aber sie ist reich an Bodenschätzen: Gold, Erze, Uran, Kohle. 1929 gründete Stalin sein Straflagersystem, um Oppositionelle und Kriminelle als Zwangsarbeiter auszubeuten. Der Gulag war ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, vor allem in den fünfziger Jahren. Ein Drittel des russischen Goldes wurde hier gefördert, 18 Millionen Menschen mussten in den Bergwerken schuften. Einer davon war Schalamow, der seine Erinnerungen zu großer Literatur machte. Seine glasklare Prosa benennt schnörkellos und sachlich ohne Beschönigungen, wie schnell Menschen Selbstwert und Würde verlieren, wenn es ums nackte Überleben geht.
Sechs der 33 »Erzählungen aus Kolyma« hat der Regisseur ausgewählt. Weil man das Elend aus Kälte, Hunger, Schwerstarbeit und Wärter-Schikanen auf der Bühne nicht realistisch darstellen kann, nutzt er drei Mittel der Verfremdung. Alle sechs Darstellerinnen sind Frauen: Nora Buzalka, Sibylle Canonica, Pauline Fusban, Anna Graenzer, Hanna Scheibe und Charlotte Schwab sind in zerlumpter Kleidung und Fellmützen fast unkenntlich. Die Bühne (Oleg Golovko) ist ein Technik-Set. Links ein Tischchen, da liest je eine Schauspielerin den Text. In der Mitte ein verschlossener, uneinsehbarer Container, in dessen Innerem die anderen die Szene spielen – stumm. Das sieht der Zuschauer auf einem großen Video. Es zeigt gelegentlich auch die Kameraleute. Zwischen den Episoden stehen wunderbare Gedichte von Schalamow auf der Leinwand.
Die Geschichten gehen in ihrer nüchternen Härte unter die Haut. Einer verkauft seine Stiefel aus einem Paket und freut sich auf Dörrpflaumen und Butter – aber alles Essbare wird zertreten von den Aufsehern. Zwei graben nachts im Frost die Leiche eines Häftlings aus, sie brauchen sein Hemd. Andere schlachten einen Hundewelpen. Einer wird zu Tode geprügelt, weil er Holz zum Kochen holen wollte. Dazwischen spielen sie mal mit Konservendosen. Der Gulag-Überlebende Schalamow liefert objektiv Zeugnis eines unmenschlichen Vernichtungssystems, dessen Aufarbeitung später sein ganzes literarisches Schaffen bestimmte. Und das zu lesen lohnt sich – der Verlag Matthes & Seitz hat sieben Bände mit Schalamows Werk veröffentlicht. ||
AM KÄLTEPOL
Cuvilliéstheater| 16. April, 30. Mai| 20 Uhr
22. April| 19 Uhr | Tickets: 089 21851940
Das könnte Sie auch interessieren:
Münchens freie Theater in der Krise: Ein Kommentar
»Die Kopenhagen-Trilogie« am Residenztheater
Theater in München: Die nächste Spielzeit
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton