Der Ursprung des Menschen und die Frage nach der Deutungshoheit – Frühgeschichte und Weltgeschichte neu gedacht.

Weltgeschichte: die ersten Menschen…

Angenommen, Putin, Erdoğan und Kim Jong-un schrieben populäre historische Sachbücher, wie würde das aussehen? Dabei ist es auch mit dem eigenen geschichtlichen Wissen nicht unbedingt bestens bestellt, und wie würden wir selbst historische Kenntnisse vermitteln? Wir kennen wohl die Würmeiszeit, aber über die Anfänge der Besiedelung Bayerns wissen wir kaum etwas. Übrigens rätseln auch die Spezialisten, ob sich diese und jene gefundenen Faustkeile einer Erdschicht zuordnen und damit datieren lassen. Olle Kamellen? Nicht wenn man sich das Zauber- und Rätselwort »Anfang« vor Augen ruft. Die Geschichte vor der Geschichte – als noch keine schriftlichen Zeugnisse überliefert wurden – ist »Der Anfang vom Anfang«, so überschrieb der Prähistoriker Hermann Parzinger in »Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte« das Kapitel über den Ursprung des Menschen. Und »Die Anfänge von allem«« betitelte der »FAZ«-Herausgeber Jürgen Kaubes ein spannendes Buch über die Anfänge menschlicher Kultur und die Errungenschaften der Zivilisation: den aufrechten Gang, das Kochen und Sprechen, Sprache, Kunst, Religion, Musik, Landwirtschaft, Stadt und Staat, Schrift und Recht, Zahlen und Erzählen sowie schließlich das Geld und die Monogamie. Kaubes Titel ist mehr als eine interessante Übertreibung,esistdie Zuspitzung der Tatsache, dass die wichtigsten Erfindungen, wie er sagt, keine Erfinder haben, wir aber vage Bilder von Ursprüngen und
Entwicklungeninunstragen.

Genauer: Dass wir immer schon in mythische Erzählungen und konventionelle Praktiken verstrickt sind. Die Erfindung des Rades – für das es kein imitierbares Vorbild in der Natur gibt – lässt Kaube beiseite, weil er nicht Technologie nachzeichnet, sondern die kommunikativen und sozialen Anforderungen, Alternativen und Lösungen. So dass sich das historische Nachforschen für alle Leser lohnt, die bei solchem Nacherzählen gerne mitfragen. Von derartigen Anfängen lässt sich laut Kaube lernen, »dass alles Neue aus etwas hervorgeht, dem man nicht ansieht, dass es ein Übergang sein wird. Dem Tempel sieht mannicht an, dass er Impulse für die Geldwirtschaft geben konnte, den Begräbnissen nicht, dass es von ihnen nicht weit war zu Göttern oder zur Markierung von Landbesitz.«

Zur bildungsbürgerlichen Basisausstattung gehörten einst, als Google noch nicht zur Hand war, nützliche Dinge wie »Brehms Tierleben«, ein Schauspielführer, eine Enzyklopädie und eine standardisierte Weltgeschichte. Heute bringt es vielleicht mehr Erkenntnis und Vergnügen, zu konzentrierten Übersichten zu greifen, mit übersichtlichen Kapiteln und originellen Zugriffen, wie die von Kaube oder »Die Geschichte der Welt. Neu erzählt von Ewald Frie«. Der Professor für Neuere Geschichte in Tübingen wagt eine Weltgeschichte »für eine jüngere Leserschaft« oder, laut Verlag, »für Jung und Alt«. Zur Einführung widmet er sich der Eroberung des Welt-Raums durch Captain Cook und den verschiedenen Zeitrechnungen und Kalendern. Dann folgen, begleitet von gebrochen bilderbuchhaften Illustrationen von Sophia Martineck, klug ausgewählte 19 kulturräumliche Stationen, von den ersten Menschen in Afrika über Babylon und den Handel im Indischen Ozean bis hin zur Megacity Kairo und derWelt-Organisation UNO. Kunstvoll unangestrengt erzählt Friebe – eine angenehme Lektüre.

und ein UN-Flüchtlingslager heute – Illustrationen von Sophia Martineck zu »Die Geschichte der Welt. Neu erzählt von Ewald Frie« © Sophia Martineck (2)

Andererseits lohnt auch der Griff zu den schwergewichtigen, vermeintlich schwierig zu lesenden Standardwerken. Etwa dem über 1000-seitigen ersten Band »Frühe Zivilisationen« der großen »Geschichte der Welt« bei C. H. Beck und der Harvard University Press, herausgegeben von Hans-Joachim Gehrke. Da bekommt man für vergleichsweise wenig Geld mehrere historische Bücher in einem Band – und von ausgewiesenen Fachleuten den letzten Stand der Forschung zusammengeschaut. Hermann Parzinger beispielsweise kommt darin in seinen 220 Seiten zur Vor- und Frühgeschichte ganz ohne Fußnoten aus, wenn er von der Proteinzufuhr und dem Werkzeuggebrauch der ersten menschlichen Aasfresser berichtet und weiter die Fülle neuer Technologien erläutert, »Innovation,Umbrüche und komplexe Gesellschaften« fasslich macht. Spannend kann es auch sein,
wissenschaftliche Basisreflexion zu verfolgen. Die Berner Altertumswissenschaftlerin Undine Stabrey fragt, wie die Dinge aus dem Boden in Zeit übersetzt, in eine archäologische Ordnung überführt, »wiederbelebt und neu erschafft« werden. Und sie demonstriert, wie sich die bis heute gebräuchlichen Kategorien Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit um 1800 konstituieren. In einem Kontext des Wandels von geglaubter biblischer Schöpfung zu einem aufklärerischen Konzept von Fortschritt, in einer Epoche gesteigerter Mobilität und Kommunikation – wobei die Vermehrung der Funde mit einer neu konzipierten Verzeitlichung der archäologischen Dinge einhergeht.

Stabrey reflektiert so die Anfänge einer neuen archäologischen Zeitrechnung. »Der Schöpfungsakt ist ein Akt des Beginns.Deshalb existiert nur, was einen Anfang hat«, konstatierte der Semiotiker Jurij M. Lotman für viele Mythen und kulturelle Weltbilder. »Eine Erscheinung erklären, hieß: auf ihre Herkunft verweisen.« In Europa bedeutete das, sich in der Reihe von Ursprüngen und Entwicklungen als Krone und Höhepunkt zu positionieren. »Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang«, behauptete Hegel. Alle Anfänge, könnte man freilich heute sagen, lagen außerhalb Europas, die wichtigen weltgeschichtlichen Entwicklungen, wie speziell Friebes globale Gesamtgeschichte verdeutlicht, auch. Alle genannten Bücher betonen, dass nicht nur die Geschichtsdeutung der Sieger, sondern jede Perspektivierung der Gefahr angemaßter Deutungshoheit und selbstzentrierter Verengung unterliegt. Den Zeitgeistkontext der Geschichtsschreibung von heute bilden die globalisierte Ökonomie, die ökologische Katastrophe, die Relativierung Europas: Herausgeber Gehrke plädiert dafür, »das Polyzentrische und Mehrpolige zu betonen und sich auf die vielfältigen Verflechtungen und Verbindungen zwischenden Kulturen der Welt zu konzentrieren.«

Dass die herkömmlichen Deutungsmuster wenig taugen, impliziert auch Jürgen Kaube, wenn er zu fragen einlädt, »Könnte es nicht auch anders gewesen sein?«, und sich vornimmt, »Perspektiven auf die Zivilisation zu eröffnen, die nicht von unseren eigenen Gewohnheiten schon festgelegt sind.« Ewald Frie wiederum hofft: »Weil wir nicht mehr Europa oder den Westen im Zentrum sehen, können wir die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts besser verstehen und damit auch besser in ihr handeln.« ||

DIE GESCHICHTE DER WELT. NEU ERZÄHLT VON EWALD FRIE
Illustriert von Sophia Martineck | C. H. Beck, 2017 | 464 S. | 24,95 Euro, E-Book 22,99 Euro

HANS-JOACHIM GEHRKE (HRSG.): DIE WELT VOR 600. FRÜHE ZIVILISATIONEN
[Erster Band der Reihe] Geschichte der Welt, hrsg. von Akira Iriye u. Jürgen Osterhammel
C. H. Beck, 2017 | 1082 Seiten, illustriert
49,95 Euro, E-Book 41,99 Euro

JÜRGEN KAUBE: DIE ANFÄNGE VON ALLEM
Rowohlt Berlin, 2017 | 448 Seiten, illustrtiert
24,05 Euro

UNDINE STABREY: ARCHÄOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN. ÜBER TEMPORALITÄT UND DINGE
transcript, 2017 | 240 Seiten, illustriert
34,95 Euro | digitale Open-Access-Ausgabe

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