So skurril und frech geht es selten zu in der französischen Literatur. In »Popcorn Melody« tritt Émilie de Turckheim der Konsumgesellschaft ans Schienbein.

Die Melodie von »Popcorn Melody«, dem achten Buch von Émilie de Turckheim, geht einem lange nicht aus dem Kopf. Es ist der zweite Roman der 37-jährigen Französin, der auf Deutsch erscheint, nach »Im schönen Monat Mai«, einem Mordstück voller schwarzen Humors im Jahr 2012. In »Popcorn Melody« heißt es einmal »Was für ein Schwachsinn, ein Buch in einem Satz zusammenzufassen? Total beknackt! Bei einem richtigen Buch reichen auch 10.000 Worte nicht aus, um es zu erzählen! Du bist erschlagen…bezaubert…du stammelst…« Bezaubert und erschlagen versuchen wir es doch einmal: »Popcorn Melody« erzählt die Geschichte von ein paar Menschen, die in der schwarzen Steinwüste irgendwo im Niemandsland von Kansas im amerikanischen Mittleren Westen einem kruden Kapitalismus und der absoluten Leere ringsum mit der überraschend scharfen Waffe ihrer persönlichen Poesie begegnen – und gewinnen. Genauer gesagt geht es vor allemum Tom Samuel Elliot aus Shellawick, einem ziemlich verlorenen Kaff im Nirgendwo. Hier macht Tom nach dem Tod seines Vaters in dessen früherem Barbiersalon einen Supermarkt auf – und verkauft fast nichts: »Ich verkaufte nur, was man brauchte, um nicht zu verhungern, sich zu waschen und Fliegen zu töten.« Vor allem aber verkauft er kein Popcorn, traumatisiert von seiner kindlichen Rolle als Werbe-Ikone für die 30 Kilometer entfernte Buffalo-Rocks-Popcornfabrik, die das ganze Leben im Umkreis in ausbeuterischer Weise beherrscht.

Tatsächlich prangt sein Konterfei bis heute auf jeder Popcorntüte. Seine Kunden kommen aber ohnehin nicht zu ihm, »um etwas mitzunehmen, sondern eher, um etwas loszuwerden«. Sie setzen sich auf den einstigen Barbierstuhl des Vaters, nunmehr im Supermarkt eine Art Beichtstuhl, gewinnen den Eindruck, dass ihr nutzloses Leben, wenn sie es Tom erzählen, plötzlich einen ungeahnten Sinn erhält – und sind glücklich.Tom beherrscht nicht nur die Kunst des Zuhörens perfekt, er widmet auch jedem Kunden beim Betreten des Ladens ein Kurzgedicht, ein Haiku, schreibt rasch ein paar Zeilen, die ihn charakterisieren, in ein Telefonbuch. Da liegt beim Gespräch mit Émilie de Turckheim in einem Pariser Café nahe der Place de la Contrescarpe die erste Frage nahe: Bitte ein Haiku, das mich charakterisiert! Die Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Nein. Sie sei vollkommen unfähig, mal kurz wie Tom ein Haiku zu dichten. Die Leichtigkeit des Schreibens scheint es für sie nicht zu geben. »Das Schreiben hat nichts Befreiendes, ganz im Gegenteil.«

Im Geiste Bartlebys

Elfmal hat sie angefangen mit »Popcorn Melody«. Nach neun Monaten und 150 Seiten hat sie dann wieder bei null angefangen. Abermals schlimmer war es bei ihrem neuen Roman, den sie gerade abgegeben hat. »Ich schaffte es überhaupt nicht zu schreiben.« Roland Barthes’ Erkenntnis aus seinen Vorlesungen am College de France über »Die Vorbereitung des Romans«, die sie sich auf CD anhörte, rettete sie. Man solle, meinte der, in so einem Fall nicht aufgeben, sondern den Stil (l’écriture) ändern. »Die Form hat mich tatsächlich gerettet«, so Émilie de Turckheim. Sie schreibt jeden Tag von fünf bis zehn Uhr morgens. Seit einigen Jahren stellt sie sich die Frage, ob die ununterbrochene Einsamkeit beim Schreiben vielleicht eine Falle sei.

Andererseits wäre ein Bürojob für sie undenkbar. »Unvorstellbar, dass jemand die Macht haben könnte, mir zu sagen: Du musst um 8.30 Uhr da sein … Ich glaube, ich habe ein solches Niveau von Ungehorsam, dass ich es einfach nicht ertrage, wenn jemand etwas von mir fordert.« Schon als Kind hielt sie sich nicht an die Regeln, war selten in der Schule, träumte lieber zu Hause vor sich hin, spielte Klavier, schrieb Geschichten. Die Mutter schrieb Entschuldigungen. Da wundert es nicht, dass ihre absolute literarische Lieblingsfigur Bartleby ist, der Held aus Melvilles Erzählung »Der Schreiber Bartleby«, dessen bevorzugte Antwort bekanntlich »I prefer not to …« ist. Klar auch, dass Émilie de Turckheim sich mit Tom identifiziert. Poesie als Widerstand scheint für sie eine Methode zu sein, ein wahres Leben im falschen zu führen. Toms ohnehin fragiles Schicksal als Unternehmer scheint in dem Augenblick besiegelt, als die Buffalo-Rocks-Popcornfabrik nun auch noch einen perfekten Supermarkt direkt gegenüber seinem Laden eröffnet und seine Kunden massenweise desertieren.

Aber jede Krise ist eine Chance. Tom verliebt sich in die völlig lebensfremde und bald entlassene Kassiererin von gegenüber und stellt sie ein. Ihr Name: Emily Dickinson – wie die amerikanische Dichterin, der Émilie (!) eine Hommage erweisen wollte. »Es ist schon wahr,« erklärt sie, »dass sich in meinen Romanen oft Personen finden, die die einfachsten Dinge nicht verstehen, aber das geschieht deshalb, weil für mich selbst die einfachsten Dinge absolut nichts Einfaches haben.« Tom schreibt irgendwann keine Haikus mehr, sondern den Roman »Leben und Tod eines Supermarkts«, in dem er »die Geschichte der Indianer in den Great Plains« erzählt – und der trostlosen postkapitalistischen Gegenwart eine Vergangenheit gegenüberstellt, in der das Leben noch farbenfroh und sinnlich war. Sinnlich und farbenfroh wie Émilie de Turckheims Roman, in dem man neben Tom und Emily noch einer ganzen Reihe eigenwilliger Figuren begegnet – und manchmal etwas den Überblick verliert. Tom jedenfalls holt am Ende seine Vergangenheit ein in Form der »Popcorn Melody« –wie wird nicht verraten, aber das ist eine positive Nachricht und der Leser freut sich mit Tom. ||

ÉMILIE DE TURCKHEIM: POPCORN MELODY
Aus dem Französischen von Brigitte Große
Wagenbach, 2017 | 202 Seiten | 18 Euro

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