Sehenswert: Christian Stückl inszeniert »Die Möwe« von Tschechow im Volkstheater.
Tschechow? Der, bei dem immer bankrotte russische Adlige sich in Luxus-Dekadenz zu Tode langweilen und schwermütig-untätig nach einem wirklichen Leben sehnen? Tschechow wurde lange als düsterer, melancholischer Untergangsprophet interpretiert. Christian Stückl konnte deshalb bisher nichts mit ihm anfangen. Doch der Dichter hat seine Dramen Komödien genannt: Inzwischen nimmt man das ernst und entdeckt die Bühnen-Komik. Bei seiner ersten Tschechow-Regie dreht der Volkstheater-Intendant die Schraube noch einen Tick weiter: Er inszenierte »Die Möwe« als temporeiche Groteske, die am Ende doch noch einen Bogen schlägt zur ernsthaften Tragik.
Grotesk erscheinen schon die Figuren: Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) hat sie ausstaffiert mit Kostümen und Frisuren wie aus einem Film von Tim Burton und etwas gespenstisch geschminkt. Sie treffen in der modrigen Durchgangshalle des Landsitzes aufeinander. Hinter hohen Portalen schwappt der See, in der großen Wasserpfütze holt man sich nasse Füße. Am Ufer führt der verquälte Nachwuchsschriftsteller Konstantin (Oleg Tikhomirov) sein Stück »Die Möwe« auf, den gesellschaftskritisch-dystopischen Monolog rezitiert seine große Liebe Nina (Julia Richter darf erst am Ende zur Hochdramatik auflaufen), die unbedingt Schauspielerin werden will. Angereist ist Konstantins Mutter Irina Arkadina, ein gefeierter Theaterstar. Mit dieser Rolle kehrt Jule Ronstedt nach 13 Film- und Fernsehjahren auf die Bühne zurück, ihre Arkadina ist ein herrlich aufgedrehtes, boulevardeskes Weibsstück.
Alle wollen lieben, viele wollen Künstler sein
Im Gepäck hat sie ihren Liebhaber, den Bestsellerautor Trigorin (Jakob Gessner differenziert ihn später reflektiert). Beide stechen durch auffälliges Rot in Kleidung und Haaren heraus. Weitere Gäste sind die dem Wodka ergebene Mascha (Pola Jane O’Mara als Gothic-Struwwelpeter). Die liebt Kostja, heiratet und tyrannisiert aber den braven Lehrer Medwedenko (Timocin Ziegler), der ihr hündisch ergeben ist. Irinas lungenkranker Bruder Pjotr hustet Blut. Zwei Jahre später sitzt er sterbend im Rollstuhl. Pascal Fligg erspielt diesem zunächst lächerlichen Pjotr zwischen irrem Gelächter und schonungsloser Selbsterkenntnis eine beeindruckende Würde.
Bei Tschechow, selbst Arzt, sind die Ärzte immer die zynisch-verzweifelten Gesellschafts-Analytiker. Mehmet Sözer sieht als Arzt Dorn dagegen mit Spitzschnurrbart und Kräusellocken unter der Halbglatze aus wie ein fünfter MarxBrother. Und spielt auch so. Das Dienstmädchen Polina erfüllt seine Pflichten mit so hasserfülltem Blick, als wolle es die Herrschaft am liebsten abmurksen. Luise Deborah Daberkow gibt sie als Spastikerin mit irren Ticks. Ständig zuckt was an ihr, sie kneift die Augen zu, grimassiert, verkrampft die Hände. Toll gespielt, aber so übertrieben, dass es nur als böse Karikatur wirkt.
Alle wollen lieben, viele wollen Künstler sein – und scheitern an beidem. Kostja an Nina, Nina an Trigorin, dem sie gefolgt ist, und dem die Arkadina ihre Dominanz mit einer deftigen Beinahe-Vergewaltigung beweist. Und die Möwe, Metapher für Ninas Aufbruch in die Welt, bleibt abgeschossen und ausgestopft. ||
DIE MÖWE
Volkstheater| 2., 3., 8., 9., 17. Dez.| 19.30 Uhr | Tickets: 089 5234655
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