»…beim Lesen in unseren Köpfen«. Doris Dörrie gestaltet beim diesjährigen Literaturfest das forum:autoren. Das Programm steht unter dem Motto »Alles Echt. Alles Fiktion«. Wir sprachen mit der Filmemacherin und Romanautorin über ihre kuratorische Linie und über das vertrackte Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit.
Frau Dörrie, Sie kuratieren in diesem Jahr das forum:autoren-Programm beim Literaturfest. Worauf setzen Sie den Akzent?
Der Akzent liegt ganz klar auf dem Memoir und allem, was autobiografisch verbürgt ist.
Autoren wie Karl Ove Knausgård, Enrique Vila-Matas oder Emmanuel Carrère feiern schon seit Jahren internationale Erfolge mit ihren autobiografischen Erzählungen. Was macht das Thema für das Literaturfest gerade jetzt so spannend?
Sie haben bei Ihrer Aufzählung natürlich die Frauen vergessen! Die kommen bei uns besonders zum Zuge, um über ihre Welten erzählen. Zum Beispiel gleich am Anfang Deborah Feldman und Ariel Levy – zwei sehr unterschiedliche Autorinnen, die darüber berichten, wie es ist, sich heute als Frau den Weg zu bahnen. Und diesen Weg entschlossen zu gehen. Aber auch eine junge Frau, die einen bemerkenswerten Roman geschrieben hat, wäre zu nennen: Alina Herbing und ihr Buch »Niemand ist bei den Kälbern«. Oft sind Romane ja auch autobiografisch geerdet, und manchmal lässt sich gar nicht genau bestimmen, was daran der biografische Anteil ist.
Das Forum steht unter dem Motto: »Alles echt. Alles Fiktion« – was genau heißt das?
Das heißt, dass wir uns augenblicklich in einer Welt befinden, in der wir ständig Narrative erfinden oder selbst zu einem Narrativ werden. Wir befinden uns in einer durch und durch fiktionalisierten Welt und haben gleichzeitig diesen großen Realitätshunger, den wir immer schmerzlicher verspüren, weil um uns herum alles zusehends zur Fiktion gerinnt. Deshalb, glaube ich, ist die Sehnsucht nach dem autobiografisch Verbürgten in der Literatur heute so besonders groß. Die Frage nach Identität und Zugehörigkeit, aber auch die nach Fakt oder Fake treiben heute auch das politische Denken um.
Welche Tendenzen sehen Sie in dem Zusammenhang? Und wie wird das forum:autoren sie thematisieren?
Die Gefahr heutzutage ist, dass durch die Identitätsfrage viele nur noch das Nationale betonen und alle nur noch ihre Wurzeln spüren wollen und dabei nicht mehr den Blick in die Weite zulassen. Das ist eine fatale Entwicklung und auch eine Bruchstelle, an der wir uns gerade befinden.
Wie stellt sich die Situation beim Film dar? Wenn man sich das Blockbusterkino anschaut, scheint die Fiktion beständiger zu sein als in der Literatur.
Auch im Film zeigt es sich in einer Sehnsucht nach dem Dokumentarischen.
Blickt man gerade in die Buchregale, sind diese voll mit Nabelschauen. Führt das beim Leser auf die Dauer nicht zur Ermüdung? Meinen Sie nicht, dass die Sehnsucht nach Fiktion wieder wächst?
Das mag sein, ich denke aber, im Moment ist es genau andersherum. Wir müssen uns gerade neu verorten und uns fragen: Wo sind wir eigentlich noch wirklich und wo sind wir noch real vorhanden? Was ist tatsächlich noch der Boden unter unseren Füßen? Aber kann nicht auch ein breit angelegter Gesellschaftsroman ein persönliches Buch sein? Aber natürlich, auch ein Klassiker wie »Madame Bovary« etwa ist ein sehr persönlicher Roman.
Wie halten Sie es bei Ihrem eigenen Schaffen mit dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit?
Das Verhältnis schillert und changiert, als Autor kann man nicht genau festmachen, wie hoch der Realitätsanteil ist. Beim Film ist es so, dass ich versuche, mich in reale Gegenden zu begeben und da die Realität mitspielen lasse in meiner Fiktion. Besonders sichtbar ist das bei »Grüße aus Fukushima«, wo die reale Katastrophe nicht nur das Motiv, sondern auch die Umgebung der gesamten Geschichte ist.
Welchen Einfluss wird ihr Zugang über das filmisch Visuelle auf das Programm haben?
Es gab ja bisher nie Film in diesem Programm, ich werde daher meine drei Japanfilme als Masterclass anbieten. Dort werde ich auch erzählen, inwieweit sich die Fiktion in die Realität gedrängt hat und andersherum. Es werden Dokumentarfilme zu sehen sein, und es wird einen Dokumentarfilmworkshop geben. Darüber hinaus gibt es Graphic Novels und auch Podcasts zu entdecken – diese sehr künstliche Grenze zwischen Text und Bild, aber auch zwischen Text und Ton versuche ich nämlich aufzuheben.
Die Podcasts sind Ihnen ein besonderes Anliegen.
Podcasts sind so ein großartiges Medium, und ich verstehe nicht, warum wir in der Hinsicht in Deutschland noch so auf der Leitung stehen. Denn erst mal sind sie, im Unterschied zum Film etwa, sehr billig zu produzieren. Sie gehen ganz anders mit medialen Welten um, im Unterschied zur »reinen« Literatur, und man kann so wie in einer Fernsehserie seriell erzählen, wie das die Amerikaner ja schon eine ganze Weile sehr toll machen. Sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, finde ich wichtig.
Welche Podcasts begeistern Sie denn im Augenblick am meisten?
»This American Life«, »The Moth« oder »Welcome to Night Vale«, ich könnte so viele nennen …
Wie sinnvoll ist es für Sie, Genreunterscheidungen zwischen Film, Literatur und anderen erzählerischen Formen aufrechtzuerhalten?
Für mich hat das nie Sinn gemacht, wenn ich anfange zu schreiben, weiß ich auch nie, ob das jetzt ein Film wird oder ein Buch, ich mache da deshalb keine Unterscheidung, weil ich wie auch jeder Leser weiß, dass der beste Kinofilm in unseren Köpfen entsteht, während wir lesen. Deshalb gibt es für mich diese Unterscheidung nicht.
Kann das Kino etwas, was die Literatur nicht kann?
Lassen Sie mich mal überlegen. Ich probiere es mal so rum: Literatur kann Action erzählen, sie kann von Emotionen erzählen, sie kann von der Historie erzählen oder von der Zukunft. Ne, ich glaube, der Kinofilm kann tatsächlich nicht mehr als das Buch. Sondern andersherum: Das Buch kann immer mehr, weil das Buch keine Schwerkraft kennt. Im Film kämpfen wir immer mit der Schwerkraft. Im Text ist das im Handumdrehen passiert. ||
Programm und Infos zum Literaturfest
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