Stefan Hunstein sucht als Schauspieler wie als politischer Fotokünstler die Wirklichkeit in der künstlerischen Reflexion.
Eigentlich hatte er ja geglaubt, er würde nach seinem Abschied von den Kammerspielen endlich einmal jenes Gefühl kennenlernen, für das in seinem Leben nie Raum war: die Langeweile. Aber dafür sind die Tage denn doch viel zu kurz. Wie viele Stunden ein Tag für Stefan Hunstein haben müsste, lässt sich nur mutmaßen, doch es müssten entschieden mehr sein, als die Uhr anzeigt. Als einen »Getriebenen« bezeichnet er sich selbst. Der Schauspieler und Fotokünstler, der gerade eine große Videoinstallation über Kinder in der Messestadt Riem vorbereitet und am 14. November im NS-Dokumentationszentrum mit der Lesung »Liebesbriefe an Adolf Hitler« zu Gast ist, arbeitet immer an mehreren Projekten zugleich.
Über drei Jahrzehnte stand Stefan Hunstein in Freiburg, Bochum und München auf der Bühne. Er gehörte zum legendären Kammerspiele-Ensemble unter Dieter Dorn, ging mit diesem ans Residenztheater und kehrte unter Johan Simons’ Intendanz an die Kammerspiele zurück. Danach nahm er sich eine Auszeit. Er wollte mehr Zeit haben für eigene Projekte wie sein »Musée Imaginaire«, in dem er mit nichts als Worten Bilder vor unserem inneren Auge entstehen lässt, oder die Performance »Die Wörter ruinieren das Denken«, eine Reflexion über den Beruf des Theaterschauspielers. Er wollte sich mit der Frage konfrontieren: »Was bleibt am Ende von all den Rollen und Texten, mit denen man sich so intensiv beschäftigt hat?« Heute kann er sagen: »Nichts ist verloren gegangen. Es ist alles noch da, in mir gespeichert.« Stefan Hunstein, meinte Johan Simons einmal, sei »ein unermüdlicher Sucher und ungemein präziser Sprachkünstler, der jede Nuance eines Satzes auslotet«. Wer schon einmal mit ihm vor einer Premiere gesprochen hat, der weiß, mit welcher Unbedingtheit und leidenschaftlichen Ernsthaftigkeit er Texte erforscht. Er ist einer, der es sich nie leicht macht und der alles, was er tut, immer wieder grundsätzlich hinterfragt.
Fremd im früheren Wohnzimmer
Einen »Skeptiker der Fotografie« nennt sich Hunstein, der seit seiner Jugend fotografiert. Ein Medium der Täuschung sei diese, schrieb er in seinem »Ersten fotographischen Manifest«: »Sie tötet die Phantasie, sie fördert die Faulheit des Geistes und die Trägheit des Herzens.« Die Realität, die sie uns vorgaukelt abzubilden, erklärt er, »ist eine Lüge«, erst die Poesie, der künstlerische Blick bringt die Dinge zum Sprechen. Als ein »Spiel mit der Wirklichkeit« versteht er seine Fotoarbeiten, die sich oft der Malerei annähern wie in der Serie »Im Eis«, atemberaubende menschenleere Bilder, die während einer Reise in die Arktis entstanden sind. Vor allem aber setzt er sich in seinen Serien beharrlich mit der deutschen Geschichte auseinander. In »Wen Gott lieb hat, lässt er fallen, ins Berchtesgad’ner Land« führte er die Selbstinszenierung Hitlers auf dem Obersalzberg vor. In der Reihe »Schön war’s!« kolorierte er Ansichtskarten aus den 50er Jahren zu einem bonbonbunten Psychogramm des sich in Verdrängung flüchtenden Nachkriegsdeutschland.
Sein tiefer Zweifel an der Abbildbarkeit der Wirklichkeit, sein Misstrauen gegenüber dem Authentizitätsschwindel prägt auch seinen Blick auf das Gegenwartstheater. Ein Theater, das behauptet, dass Menschen die Wahrheit über sich selbst kennen und Kunst ein Illusionsmedium sei, »das glaubt, ein echter Verbrecher sei interessanter als ein Schurke von Shakespeare, und das Schauspieler durch Laien und Performer ersetzt«, meint er, »ist nicht meine Welt.« Wenn das Theater zunehmend auf künstlerische und poetische Reflexion verzichte, auf Oberflächen surfe, so Hunstein, verliere es seine ureigene Kraft. Dass er sich derzeit in seinem früheren Wohnzimmer, den Kammerspielen, nicht mehr künstlerisch zu Hause fühlen könnte, hat er in letzter Zeit sehr deutlich gemacht, etwa in seiner Rede zur Gisela-Stein-Ausstellung. Dabei, betont er, liege ihm ein konventionell verengter Kunstbegriff fern.
Der 60-Jährige ist in seiner Heimatstadt Kassel mit Kunst aufgewachsen. Sein Vater, »ein leidenschaftlich neugieriger und weltoffener Mensch«, war eng mit dem documentaBegründer Arnold Bode befreundet. Im Haus des Zahnarztes saßen Künstler nächtelang beisammen, tranken und diskutierten. Hier begegnete der junge Stefan Joseph Beuys und Richard Serra, er war dabei, als Edward Kienholz die berühmte Antirassismus-Installation »Five Car Stud« aufbaute. Irgendwann traf er auch den Regisseur Nicolas Brieger, der ihm anbot, bei ihm am Bremer Theater zu assistieren. So unbekümmert er damals losstürmte, um die Bühnen zu erobern, so grausam holten Stefan Hunstein die Selbstzweifel ein. »Als
ich jung war, hab ich gedacht: Ich will das, ich kann das. Später dachte ich: Ich kann eigentlich gar nichts. Ich hatte so furchtbare, so existenzielle Ängste, dass jeder vernünftige Mensch gesagt hätte: Junge, du musst es lassen.« Nur »millimeterweise«, in schmerzlich winzigen Schritten gelang es ihm, sich aus dem Klammergriff der Angst zu befreien. Erst im Residenztheater war es ihm möglich, »eine Bühne vollständig angstfrei und mit größter Lust zu betreten«.
Die »private Seite des Terrors«
Neben der Arbeit im Ensemble begann er bald schon eigene Projekte zu realisieren. Seit er als junger Schauspieler mit schockartiger Verstörung die Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß gelesen hat, hat ihn die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, den Mechanismen eines unfassbar brutalen Wahnsystems nicht mehr losgelassen. Im Lauf der Jahre hat er zahlreiche Lesungen und Inszenierungen erarbeitet, darunter eine umfangreiche Reihe mit dem Titel »Die Sprache bringt es an den Tag«. Zu ihr gehören neben Hitlers Tischgesprächen auch Liebesbriefe deutscher Frauen an den Massenmörder, Zeugnisse einer bizarren erotisch aufgeladenen Verehrung (»Heil Adölflilein«, »Du süßestes herzensbestes Lieb«), die, so Hunstein, zeigen, wie der Führerkult »bis in die intimsten Fantasien vordrang«.
Die Lesung, die eindringlich die »private Seite des Terrors« vorführt«, wird er nun noch einmal im NS-Dokumentationszentrum präsentieren.Die theaterfreie Zeit ist für Stefan Hunstein mittlerweile vorbei. Er hat Gastrollen übernommen, stand als Faust in Düsseldorf auf der Bühne. 2018 wird Johan Simons ihn ans Schauspielhaus Bochum holen. Doch, versichert er: »Ich gehe nicht wirklich weg, auch wenn ich in Bochum arbeite. Ich gehöre hierher. Hier lebt meine Familie, und hier ist mein Publikum. Kein Engagement«, meint er, und darüber darf man sich von Herzen freuen, »könnte mich dazu verleiten, München ganz zu verlassen.« ||
LIEBESBRIEFE AN ADOLF HITLER
NS-Dokumentationszentrum| Brienner Str. 34 | 14. Nov.| 19 Uhr | Tickets: 089 23367000
MUSÉE IMAGINAIRE – IM AUGENBLICK DES BILDES
Bayerische Akademie der Schönen Künste
Max-Joseph-Platz 3 | 16. Jan. 2018| 19 Uhr
Das könnte Sie auch interessieren:
Radikal jung: Das Festival für neue Regie im Volkstheater
Heldenplatz: Thomas Bernhard an den Kammerspielen
»Die Mühlengeschichte« am HochX: Ein Rückblick
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton