»disabled artist« Claire Cunningham hinterfragt bei Spielart Wahrnehmung und Bedingungen von Tanz.
Die künstlerische Arbeit mit dem nicht-normativen Körper ist immer auch eine Chance, Wahrnehmung und Bedingungen von Tanz zu hinterfragen und neu zu denken. Claire Cunningham, die sich selbst als »disabled artist« bezeichnet und mit ihren Krücken auf eine eigene Bewegungssprache zurückgreift, hat gemeinsam mit dem Choreografen Jess Curtis ein Stück entwickelt, welches diese Chance mitdenkt, ohne sie uns aufzudrängen. Die beiden Künstler, die vor zwölf Jahren das erste Mal zusammengearbeitet haben, wurden außerdem von dem Philosophen Alva Noë beraten, sodass »The Way You Look (at me) Tonight« zu einem sinnlich-poetischen, humorvollen, aber auch theoretisch reflektierten Abend geworden ist. Was bedeutet es, jemanden anzuschauen, jemanden zu sehen und wirklich wahrzunehmen? Wie werden wir selbst angesehen?
Das Publikum, das zu Teilen dazu eingeladen wurde, auf der Bühne verteilt Platz zu nehmen und sich dem Spiel der Blicke und Körper auszusetzen, wird von Curtis und Cunningham sprechend, tanzend und singend durch die etwa 100 Minuten geführt, in denen viel erzählt und offenbart, von Erfahrungen und Erinnerungen berichtet wird. Es geht um die Art des Schauens und Wahrnehmens, um Zentrum und Peripherie der Aufmerksamkeit, die durch gezielt platzierten medialen Overflow von Video, Sound und Sprache oft genug herausgefordert, und durch kleine Interaktionen mit den Zuschauenden sowie minimale, charmant daherkommende physische Übergriffigkeiten immer wieder direkt eingefordert wird.
Wer Cunningham mit ihren Krücken in Aktion erlebt, der ist eigentlich keinen Moment versucht, das zu sehen, was ihr fehlt. Im Gegenteil – wir sehen die Möglichkeiten eines Bewegungsrepertoires, über das die meisten Menschen nicht verfügen. Die enge Beziehung, die sie mit ihren Krücken verbindet, ist eine liebevolle, ihre Funktion komplex: Sie sind sowohl Stütze und notwendige Bedingung als auch Instrument des künstlerischen Ausdrucks, das sie virtuos beherrscht. Sie sind Teil ihres Körpers, der mehr ist als ein »weiblicher«.
Auch darüber wird gesprochen. Und natürlich wird auch getanzt und zwar auf ganz unterschiedliche Weise: verschiedene Arten des Gehens, meditative Contact Improvisation, mit der sich die beiden über den Bühnenboden rollen, ein schlichtes Pas de deux und fast ganz zum Schluss ein betörend langsamer Paartanz, der erst mal eingerichtet werden muss – fragil und instabil, und dadurch nah und intim.
Nächster Spieltermin:
The Way you look at me tonight | 10. November | 18.30 Uhr | Schwere Reiter
Das könnte Sie auch interessieren:
»DENKRAUM DEUTSCHLAND: feminin« in der Pinakothek
»Fluchtachterl in die Hafenbar« im TamS-Theater
Freies Theater München: Das 50 (+1). Jubiläum
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton