Das Spielart Festival eröffnet mit zwei diametral entgegengesetzten Positionen von Theater.

Lou Armour hat über den Tod von Gegnern geweint

Auf dem Weg in den Carl-Orff-Saal kommt man an einem Denkmal vorbei. Dem Denkmal für die enttäuschten Hoffnungen der Südafrikaner. Mit einer Art Witwenschleier unter dem Hut steht die Performerin Sethembile Msezane aus Kapstadt zwei Stunden lang auf einem Podest, nahezu unbeweglich. Auf ihren Schultern trägt sie eine Stange mit Transparenten, auf die die Forderungen der Freedom Charter nach Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechten geschrieben sind. »The Charter« wurde bereits 1955 aufgestellt und sollte nach dem Ende der Apartheid endlich Realität werden sollten. Doch die Regenbogennation ist bis heute gespalten, die Politiker korrupt und von den Idealen der Freedom Charter weit entfernt.

Eine andere politische Tragödie zeigt die Argentinierin Lola Arias in ihrem Dokumentartheaterstück »Minefield«. Erinnert sich in Europa noch irgendjemand an den Falklandkrieg von 1982? Ein Krieg um ein ödes Stück Land, auf dem heute knapp 3000 britischstämmige Bewohner leben? Jahre bevor Ölfelder vor den Inseln gefunden wurden, führten Margaret Thatcher und der argentinische Juntachef Leopoldo Galtieri einen Krieg um die Inseln, der Argentinien 649 und Großbritannien 258 Menschenleben kostete. Die Briten siegten.

In Argentinien ist der Krieg um die Malvinas, wie sie dort heißen, allgegenwärtig. Es gibt T-Shirts, Poster, Autoaufkleber, Graffiti. In Großbritannien gibt es: nichts. Nur die Erinnerungen der traumatisierten Soldaten. Und die sind auf beiden Seiten gleich. Haben Lou Armour, David Jackson, Gabriel Sagastume, Rubén Francisco Otero, Sukrim Rai und Marcelo Vallejo in den letzten zwei Jahren herausgefunden. Ihre gemeinsame Theaterarbeit dauert schon viel länger als der 74-Tage-Krieg. Und ist vielleicht auch eine psychologische Aufarbeitung ihrer Traumata, die erst lange nach dem Krieg erkannt und behandelt wurden.

In einer Art Fotostudio mit Kostümgarderobe und Schminktisch an beiden Seiten stellen sie Szenen des Krieges nach. Schießen mit imaginären Gewehren, bauen Modelllandschaften nach, graben verrottete Kriegsausrüstung aus. Erinnern sich daran, wie es war, als der Kumpel starb – oder ein feindlicher Soldat, der englisch sprach und um den Lou in einer Filmdokumentation nach dem Krieg geweint hatte. Dafür schämte er sich 35 Jahre lang. Jetzt nicht mehr. Gabriel erzählt, wie es war, Leichenteile von Kameraden einzusammeln, die auf der Suche nach Essen auf die vom eigenen Land vergrabenen Minen getreten waren. Rubén erinnert sich an 41 Stunden im überfüllten Rettungsfloß im eiskalten Wasser, nachdem die General Belgrano versenkt wurde. Fast alle hatten erfrorene Füße.

Es ist nicht so, dass sie ihre Standpunkte geändert hätten, was die Inseln betrifft. Jede Gruppe reklamiert sie für sich. Und wie unterschiedlich dieselbe Geschichte dargestellt werden kann, zeigen sie, wenn sie den argentinischen und englischen Wikipedia-Eintrag über die Inseln gegenüberstellen. Aber der Ironman Marcelo hat keine Angst mehr, wenn er Englisch hört. Sukrim, der Gurkha aus Nepal, führt jetzt mit dem Messer Khukuri einen Tanz vor und hat es auch im Krieg nur zur Gefangennahme eingesetzt. Nicht zum Kopfabschneiden, wie Marcelo dachte.

Lola Arias dokumentarisch streng in Kapitel unterteilter Abend macht deutlich, wie viel Mythen und Propaganda den Soldaten auf beiden Seiten eingetrichtert wurden, um Hass zu erzeugen, und wie schwer es für den Einzelnen war, aus dieser Erstarrung wieder herauszufinden. Marcelo flüchtete erst in Drogen und ist jetzt Extremsportler. David wurde Psychologe, der Veteranen kuriert. Unsentimental ist das passendste Wort für die Art und Weise, wie sie ihre Geschichten erzählen. Und trotzdem gehen sie einem nahe, die beschädigten Männer.

Ganz anders die zweite Premiere des Abends, die einem mit ihrem Poesieanspruch eher nervt. Eine Pop-Oper nennt sich Tianzhuo Chengs szenische Installation »An Atypical Brain Damage«, doch die Musiker von Gitanes Blondes mit ihren freundlich musetteartigen Klängen kommen nur zweimal im Laufe von 90 Minuten überhaupt zum Zuge. Ansonsten dominiert ein Soundteppich aus Technogewummere, Fliegensurren, Geblubber und technisch klingendem Geknirsche und auch mal lustig misstönendem Karaokegesang. Wie auf einer Messe schiebt sich das Publikum durch die Muffathalle mit ihren drei Podesten, immer auf der Suche nach einem interessanten Aussteller. In einer Art Almhüttchen mit Apple-Logo hausen zwei Märchenschwestern, die eine gespaltene Persönlichkeit sein könnten. In einer getunten Karre wabert es trockeneisnebelig, drum herum tanzt ein seltsam archaisches Wirbeltier, das später als bellender Köter und Todesvogel mit Strohflügeln zurückkehrt. Auf Pathologieliegen werden zwei Männer mit Blutwasser gewaschen, eine Pantomimin reibt sich am Publikum und die Schwestern an Ketten bedienen Seifenblasenmaschinchen. Chengs Arbeit will zu viel auf einmal sein: Clubabend, Kunstinstallation, poetische Fantasie und nächtlicher Albtraum zugleich. Das wirkt beliebig und wenig überzeugend.

Nächste Spieltermine:
Lola Arias: Minefield | Samstag, 28. Oktober | 19 Uhr | Gasteig: Carl-Orff-Saal
An Atypical Brain Damage | Samstag, 28. Oktober | 21 Uhr | Muffathalle

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