Wie werden Menschen zu Tätern? Andrei Konchalovskys »Paradies« ist ein großartiger Film über den Verlust der Menschlichkeit.

V.l.n.r.: Evgeny Ratkov, Julia Vysotskaya und Christian Clauß in »Paradies« | © Alpenrepublik

Hier gibt es keine einfachen Antworten. Andrei Konchalovskys Film »Paradies« wirft Fragen auf, die den Zuschauer noch lange verfolgen – was man von einem guten Film über die NS-Zeit auch erwarten sollte. Auf den Filmfestspielen von Venedig jedenfalls bekam Konchalovsky den verdienten Silbernen Löwen als Bester Regisseur. Im Zentrum seiner Erzählung stehen drei Personen. Olga (Julia Vysotskaya) ist eine adlige Exilrussin, die sich dem französischen Widerstand angeschlossen hat und jüdischen Kindern Unterschlupf bietet. Schließlich fliegt sie jedoch auf. Hier kommt der Polizist Jules (Philippe Duquesne) ins Spiel, der für den Zuschauer das erste Rätsel darstellt. Er kollaboriert mit den Nazis, scheint aber nichts von den neuen Machthabern zu halten. Er liefert Juden und Widerständler ans Messer, führt aber gleichzeitig einen harmonischen Familienhaushalt. Angst, Bequemlichkeit oder der bloße Wunsch nach Aufstieg?

Auf jeden Fall jemand, der sich seiner Macht bewusst ist: Im Gegenzug für sexuelle Gefälligkeiten würde er Olgas Los erleichtern. Doch auch ihr Einwilligen in dieses Angebot kann sie nicht retten. Jules wird von Résistance-Kämpfern erschossen und sie ins Konzentrationslager deportiert. Dort trifft sie auf Helmut (Christian Clauß), den sie noch von einer Feier im letzten Sommer kennt. Damals verliebte sich der belesene Adelige in sie. In der Zwischenzeit ist er jedoch SS-Offizier und glühender Bewunderer des Führers. Trotzdem sind seine Gefühle für Olga nicht versiegt – und so nutzt auch er seine Macht für die eigenen Wünsche.

Dieses ganze Chaos und Grauen schildert Konchalovsky in erschütternder und brutaler Nüchternheit. Er nähert sich diesem Thema weder sentimental, oder verharmlosend, noch mit voyeuristischem Grusel. Seine Bilder sind fast dokumentarisch. Unterstrichen wird das dadurch, dass jeder hier in seiner Muttersprache spricht. Dazu werden Interviews eingespielt, in denen sie von ihren Motiven, ihrer Vergangenheit und ihrem Weltbild erzählen. Trotzdem bleibt vieles im Dunkeln: Wie wird ein Familienvater zum Schreibtischtäter? Warum lässt sich ein Tschechow liebender Intellektueller als Schachfigur in Uniform benutzen?

»Paradies« ist ein großartiger Film über den Verlust der Menschlichkeit. Nicht nur bei den Tätern, sondern auch bei den Opfern. Wenn es ums nackte Überleben geht, gibt es kein Gut oder Schlecht mehr. Konchalovsky stellt so das perverse Zusammenspiel von Macht und Ohnmacht gegenüber. Er dämonisiert nicht, bringt aber auch kein Verständnis entgegen, wenn es keines geben darf. Seine Protagonisten sind nicht einfach der Mitläufer, der Überzeugungstäter und das Opfer, sondern vielschichtig und widersprüchlich. So ist »Paradies« nicht nur ein ernst zu nehmender Film über Naziverbrechen, sondern er wagt sich an den Kern der unzähligen Tragödien der Vergangenheit – und wahrscheinlich auch der Zukunft. ||

PARADIES
Russland, Deutschland 2016 | Regie: Andrei Konchalovsky | Mit: Julia Vysotskaya, Christian Clauß, Philippe Duquesne u.a.
132 Minuten | Kinostart: 27. Juli
Trailer

 


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