Ein Gespräch mit der türkischen Exil-Autorin Ece Temelkuran über die politischen Verhältnisse in ihrem Heimatland.

Ece Temelkuran | ©Muhsin Akgün

Ece Temelkuran zählt zu den wichtigsten Journalistinnen und Autorinnen der Türkei. Sie studierte Rechtswissenschaften an der Universität Ankara, veröffentlichte ein Dutzend Sachbücher und Romane, moderierte politische Fernsehsendungen und schrieb als Kolumnistin für Tageszeitungen. Die 43-Jährige wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Pen for Peace Award. Ihre Bücher werden in 22 Sprachen übersetzt. Soeben ist ihr neuer Roman »Stumme Schwäne« (Hoffmann & Campe) erschienen. Ece Temelkuran lebt im Exil in Zagreb.

Vor fünf Monaten haben Sie Ihre Wahlheimat Istanbul verlassen und sind nach Zagreb gezogen. Fürchteten Sie in der Türkei eine Verhaftung?
Jeder, der wie ich kritisch über die Regierung und den Präsidenten schreibt, wird bedroht. Es geht nicht nur darum, eventuell angeklagt zu werden oder ins Gefängnis zu kommen, sondern um ganz alltägliche Einschüchterungen. Jedes Mal, wenn ich nach einer Auslandsreise zurückkam, fürchtete ich,
dass man mir meinen Pass abnehmen würde. Viel zu vielen Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen ist das schon passiert. Als dann auch noch der Moderator einer nationalistischen Fernsehshow ankündigte, dass man dafür sorgen werde, dass meine Stimme aus der Öffentlichkeit verschwinden würde, habe ich Konsequenzen gezogen.

Was können Sie aus Ihrem Exil heraus bewirken?
Ich erhebe meine Stimme lauter denn je! In gewisser Weise ist es jetzt sogar leichter für mich, die Entwicklung zu kommentieren. Meine künstlerische Freiheit ist gewachsen, ich habe mehr Spielraum und Energie. Aber das ist ein zwiespältiger Luxus, wenn währenddessen in der Türkei Menschen sterben und im Gefängnis sitzen. Die Lage ist furchtbar. Die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft ist kaum auszuhalten, und nichts ist vorhersehbar oder gar sicher.

Das klingt fast so wie in Ihrem neuen Roman, der kurz vor dem Militärputsch von 1980 spielt. Hat die damalige politische Situation etwas mit der aktuellen zu tun?
Absolut! Das heutige Chaos in der Türkei hat seinen Ursprung in diesem Putsch. Damals wurde das Schicksal des Landes auf verhängnisvolle Weise in eine negative Richtung gedreht. Vor 1980 gab es eine bessere, freiere und fortschrittlichere Türkei – was danach kam, ist bekannt und gipfelt in der Präsidentschaft Erdogans.

Inwiefern hat der Putsch den konservativen Islamismus gestärkt?
Das Militär, das fälschlicherweise immer als Beschützer des Systems gilt, als wichtige säkulare Macht, hat damals den Weg für religiöse Sekten geöffnet und sie unterstützt. Dadurch konnten konservative Parteien wie die AKP erst groß und mächtig werden. Das ist jedoch nicht der einzige Grund. Eine lang anhaltende, fatale Wirkung hatte auch die Zensur der türkischen Sprache. 1980 wurden hunderte Wörter aus den offiziellen Lexika und dem Sprachgebrauch der staatlichen Medien getilgt. Die Menschen bekamen Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Heute ist die Türkei ein Reich der Angst und Schizophrenie – der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die mit dem Militärputsch begann.

Welche Begriffe waren das?
»Widerstand«, »kritisches Denken« und »Hinterfragen« zum Beispiel. Stattdessen durfte man zwar ähnliche osmanische Wörter verwenden, aber das war eben nicht dasselbe. Die Zerstörung der türkischen Sprache und der Qualitätsverlust der Bildung haben inzwischen dazu geführt, dass wir nicht mehr kommunizieren können. Ich habe in Istanbul oft Menschen zugehört, die sich zwar unterhielten, aber nicht verstanden.

Apropos Sprache: Sie erzählen Ihren Roman aus der Perspektive von Ayse und Ali, zwei Kindern – das ist ungewöhnlich für eine politische Handlung.
Ich habe mich ganz bewusst für diesen Blickwinkel entschieden. In der komplizierten und verwirrenden Lage, in der sich die Türkei damals befand – und heute wieder befindet –, ist es manchmal leichter, mit Kinderaugen auf das Geschehen zu blicken. Das Vokabular wird überschaubarer, die Sprache reduzierter. Das Wesentliche kristallisiert sich einfacher he -raus. Als Autorin war diese Prosa eine echte Herausforderung; ich glaube allerdings, dass sie angemessen ist. Denn wer könnte besser als Kinder das Chaos beschreiben, das nicht einmal Erwachsene verstehen?

Sie selbst waren zum Zeitpunkt des Putsches acht Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Ich weiß noch genau, wie ich im Morgengrauen des Putsches aufwachte und den Flur entlang zu meinen Eltern ging. Sie saßen im Wohnzimmer, rauchten, und sahen unendlich traurig aus. Draußen war dieses Zwielicht, das Morgenblau. Ich hatte keine Ahnung, was los war, spürte jedoch, dass es etwas mit uns, mit mir zu tun hatte. Wir Kinder ahnten, dass etwas Schreckliches passiert war – das geht auch Ayse und Ali inmeinem Roman so. Mein Buch ist also auch so etwas wie eine persönliche Archäologie dieser Zeit.

Ihr Roman heißt nicht zufällig »Stumme Schwäne«. Es gibt diese Schwäne an einem kleinen See mitten in Ankara.
Was ich Ihnen jetzt erzähle, ist tatsächlich passiert: Der türkische Generalstabschef befahl 1980, ihm einen dieser Schwäne für seinen Gartenteich zu bringen. Das Tier flog jedoch bald wieder zurück an den See und verletzte sich auf dem Weg, als es gegen ein Gebäude stieß. Daraufhin ließ der Generalstabschef allen Schwänen einen bestimmten Knochen im Flügel herausoperieren, um sie am Fliegen zu hindern.

Klingt unglaublich.
Ist aber wahr. Mir taten die operierten Schwäne schon früher leid. Deswegen beschließen Ayse und Ali in meinem Buch, sie zu retten.

Sieht man noch heute Schwäne in Ankara?
Ja. Und es ist sehr seltsam. Denn viele Türken haben sich so daran gewöhnt, dass sie nicht fliegen, dass sie vergessen haben, dass Schwäne das sehr wohl können. Die grausamen Taten des Generalstabschefs sind auch vergessen – stattdessen erinnert man sich an ihn als Maler, der er nach seiner Pensionierung wurde. Unsere Nation vergisst gerne. Wir haben den Militärputsch von 1980 vergessen, obwohl es der blutigste war, den es in der jüngeren Geschichte gab. Wir haben auch das Massaker an den Armeniern vergessen, die Geschichte der Kurden. Es sieht so aus, als leide unsere Nation an kollektiver Amnesie – und Präsident Erdogan profitiert davon.

Sie kommentieren seit vielen Jahren kritisch seine Politik. Frustriert es Sie, dass er in der türkischen Bevölkerung noch immer so populär ist?
Schlimmer noch: Mir kommt es manchmal so vor, als würde ich mit ihm als Duo auftreten. Wann immer ich irgendwo auf der Welt auf einer Bühne stehe oder Texte für internationale Medien schreibe, ist auch er da. Man zeigt Bilder von ihm, wiederholt seine Positionen, reproduziert sein Gesicht und seine Überzeugungen. Das ist problematisch. Ich frage mich gelegentlich, ob wir oppositionellen Autoren nicht zu Spiegelbildern der Unterdrücker und Diktatoren werden. Außerdem beobachte ich mit Sorge, dass man inzwischen weltweit kritisch denkende Prominente diskreditiert. Man verurteilt sie öffentlich, zweifelt ihre Meinung mit alternativen Fakten an und liefert sie Medien aus, die das nachplappern.

So wie Donald Trump Meryl Streep als »überschätzte Schauspielerin« bezeichnet hat.
Genau. Das ist die Methode. Zum Glück haben Streep und viele ihrer Kollegen mit großartigem Witz und Sarkasmus darauf geantwortet. Aber ich glaube, es ist kaum jemandem bewusst, welcher Prozess durch solche Äußerungen in Gang gesetzt wird. Wenn bekannte fortschrittliche Künstler und Wissenschaftler diskreditiert werden, fällt es auch den Massen schwerer, ihren Unmut auszudrücken und Schlagworte für ihren Protest zu finden. Die Folge ist, dass der Populismus noch mehr Raum bekommt. Donald Trump sehe ich allerdings nicht als größte Gefahr, denn ihm sieht man sofort an, dass etwas nicht stimmt – er hat eine komische Frisur und er redet komisches Zeug. Bei uns in der Türkei sind Politiker oft nicht so eindeutig zu entlarven.

Wie beurteilen Sie das Abstimmungsergebnis des Referendums vom April und die Folgen?
Das Abstimmungsergebnis wird dazu beitragen, das Schicksal der Türkei in negativer Weise zu besiegeln. Erdogan ist es wieder einmal, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, gelungen, durch den bewussten Einsatz von Feindbildern, Drohungen und Unwahrheiten eine Stimmung zu erzeugen, in der die Menschen nun sogar für ein System gestimmt haben, das ihnen selbst schaden wird. Darüber hinaus habe ich keine allein gültige konkrete Erklärung für das Wahlverhalten der angeblichen Mehrheit – spiegelt das Ergebnis die Krise der repräsentativen Demokratie oder der Wahrheit wider? Leben wir tatsächlich schon im postfaktischen Zeitalter? Es gibt zahlreiche philosophische und psychologische Erklärungsmöglichkeiten, und sicherlich ist an allen etwas dran. Grundsätzlich empfinde ich es als
schwachen Trost, dass überall auf der Welt Menschen schon immer schreckliche Entscheidungen getroffen haben, obwohl sie eine bessere Alternative gehabt hätten.

In Ihrem Roman zitiert eine Frau den türkischen Dichter Nâzım Hikmet, der einmal sagte: »Wir müssen an die Menschen glauben«. Tun Sie das?
Es fällt mir manchmal schwer, aber woran sollte ich sonst glauben? An Gott jedenfalls nicht. Für mich ist es eine moralische Pflicht, an die Menschen zu glauben – ich habe gar keine andere Wahl. Die Menschen werden wieder aufstehen und die Geschichten ihres Leidens und ihres Widerstands erzählen, davon bin ich überzeugt. Vielleicht dauert es noch, aber es wird der Tag kommen, an dem ein Wind die Fenster aufstößt, hindurchweht und einen kühlen Lufthauch mit sich trägt. ||

ECE TEMELKURAN: STUMME SCHWÄNE
Übersetzt von Johannes Neuner | Hoffmann und Campe, 2017 | 384 Seiten | 22 Euro

 


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