Zwei Produktionen aus Kanada und China setzen sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in ihren Ländern auseinander. Ein Ausblick auf das Festival DANCE im Mai.
»Highway of Tears« nennen manche die Autobahn Nr. 16 in Britisch Columbia. Hier häuften sich die Fälle. Denn in Kanada wurden in den letzten drei Jahrzehnten über Tausend indigene Frauen und Mädchen ermordet oder sind spurlos verschwunden, das räumten schließlich Regierungsvertreter ein. Indigene Organisationen und Aktivisten, die diesem lange verschwiegenen Skandal nachgehen, sprechen von Tausenden. Die Gewalt gegenüber indigenen Frauen jedenfalls erwies sich als signifikant hoch verglichen mit dem statistischen Durchschnitt. Daina Ashbee hat sich in ihrem Tanzstück »Unrelated« mit diesem verstörenden Thema auseinandergesetzt.
Die in Montreal arbeitende Choreografin hat selbst indianische und holländische Wurzeln und kennt sich als In- und Outsiderin aus mit den Mechanismen sozialer Ausgrenzung. »Ich spürte eine Menge Gewalt in meinem Körper«, erklärt sie, »und konnte das durch Improvisation physisch zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig war ich überwältigt von meinem Gefühl der Hoffnungslosigkeit angesichts der fortgesetzten Gewaltausübung gegen Frauen und besonders indigene Frauen. Ich nutzte meine innere Gewaltbereitschaft zur Gestaltung eines Stücks, das auf vielen Ebenen und verschiedenen Dimensionen Gewalt zum Ausdruck bringt – ohne einen Protagonisten und Gegenspieler einsetzen zu müssen.« Ashbee bediente sich persönlicher Erfahrungen aus Freundeskreis und Familie, abstrahierte aber, denn sie wollte nicht eine spezielle Geschichte von dieser und jener erzählen. Zwei Tänzerinnen verkörpern in sinnlich-zarter wie expressiv-brutaler Weise physische wie soziale Gewalt, psychische Kräfte, Verstörungen und Verletzlichkeit, Machtlosigkeit und Selbstwertgefühl.
Die Sprache einer Minderheit
Daina Ashbees Arbeit wird am 14./15. Mai beim Festival DANCE (Kammer 2) präsentiert, das unter 20 Produktionen – der Bogen spannt sich von einem Québec-Schwerpunkt über Europa und Israel bis China – diesmal mit sogar sechs Uraufführungen punkten kann. So mit einer neuen Produktion von Frédérick Gravel, der – ebenfalls in Montreal arbeitend – faszinierend Pop, Konzeptkunst und Coolness mixt – wie immer mit Live-Musik (20./21. Mai, Muffathalle). Mit Ashbee verbindet den chinesischen Choreografen Yang Zhen das Interesse an der Mischung zeitgenössischer und traditioneller Tanzformen. »Ein junges Talent«, so Festivalleiterin Nina Hümpel, »das sich intensiv mit der Gesellschaft Chinas und den politischen Gegebenheiten auseinandersetzt und das eine eigenständige Tanzsprache entwickelt hat, die aus der Auseinandersetzung mit zeitgenössischem und traditionellem Tanz herrührt. Er hat an der Mingzu-Universität für ethnische Minderheiten studiert. Und stellt damit die Frage, wie sich kulturelle Traditionen von Minderheiten mit der Gegenwart verbinden.«
Hümpel hat Yang Zhen für Europa entdeckt und sein Stück »Just go Forward« 2015 beim Festival in München gezeigt. Das beschäftigte sich mit der Rolle der Frau und der Freiheit des Individuums in der chinesischen Gesellschaft. Mit seinem nun in München uraufgeführten Stück komplettiert er eine »Revolution Game« benannte Trilogie, deren zweiter Teil – »In the Field of Hope« – sich um junge Leute drehte. Für »Minorities« (12./13. Mai, Schwere Reiter) castete er Darstellerinnen aus Tibet, Xinjiang, der inneren Mongolei, Nordkorea und Macao. »Für mich war wichtig, dass sie auch die Sprache ihrer Minorität sprechen können, was selten ist. Und Macau als chinesische Sonderverwaltungszone war interessant für mich, weil es dort keine Konzepte von Mehrheit und Minderheit gibt«, sagt Yang Zhen.
Der junge Choreograf mag keine Labels. Als politischer Choreograf versteht er sich nicht. Sein Bezugspunkt ist die Realität, wie er sie in China erlebt, und die Vergangenheit, die untrennbar mit gegenwärtigen sozialen Problemen verknüpft ist. »Ich arbeite viel mit historischen Dokumenten, von denen ich dann einige in meine Stücke aufnehme. Daran lässt sich, wie ich meine, Vieles verdeutlichen. Denn Denken funktioniert über Kontraste.« Mittlerweile ist Yang Zhen viel herumgekommen. In China war er beim renommierten Taipeh Festival zu Gast, bei Julidans in Amsterdam hat er eine Residenz. Von München aus wird er noch nach Heilbronn und Münster fahren, um seine jüngste Kreation zu präsentieren. Welche Erfahrungen macht er auf Tournee? »Ich bemerke die Erwartungen, die an zeitgenössische Kunst gestellt werden, und die Stereotypen, mit denen man konfrontiert wird. Ich möchte dem Publikum zeigen, wie vielfältig das heutige China ist und was junge Chinesen darüber denken.« ||
DANCE 2017
Verschiedene Spielorte| 11.–21. Mai
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