…und was daraus wurde. Von Lenin im Schwabinger Exil über die Räterepublik bis zum Nationalsozialismus – in der Seidlvilla erinnert eine Ausstellung an ein russisches Kapitel
Stadtgeschichte, und eine zweite informiert über die große Revolution und deren Folgen.
Lenin schätzte das Hofbräuhaus. Nicht nur weil das Bier dort »alle Klassengegensätze auslöscht«, wie seine Frau Nadeschda Krupskaja im Tagebuch festhielt, sondern auch weil die berühmten Initialen »HB« den kyrillischen Buchstaben »NW« entsprechen: der Abkürzung für »Narodnaja Wolja« (Wille des Volks), jene frühe russische Untergrundorganisation, durch die Zar Alexander II. den Tod gefunden und für die Lenins Bruder Alexander Uljanow sein Leben gelassen hatte. Diese und ähnliche Anekdoten (nachzulesen im materialreichen Band »Das russische München«, den das als Kooperationspartner beteiligte russische Kulturzentrum MIR 2010 veröffentlicht hat) ließ sich Altoberbürgermeister Christian Ude in seiner launigen Eröffnungsrede zu zwei Plakatausstellungen in der Seidlvilla natürlich nicht entgehen.
An den bevorstehenden 100. Jahrestag der Oktoberrevolution und deren Folgen erinnert dort bis zum 23. April eine Doppelpräsentation. Die größere, globale, »Der Kommunismus in seinem Zeitalter«, resümiert auf 24 Tafeln die »größte und tiefgreifendste Massenbewegung des 20. Jahrhunderts«; sie wurde von dem Publizisten und Kenner der deutsch-russischen Beziehungen Gerd Koenen im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschen Historischen Museums zusammengestellt. Die kleinere, lokale, im ersten Stock, über München und die Russische Revolution, ist das beachtliche Ergebnis eines Projekts von Studierenden des Münchner und Regensburger Elitestudiengangs Osteuropastudien. Schade nur, dass sich diese lokalhistorische Schau auf fünf – notgedrungen etwas überladene – Tafeln beschränkt, denn das Thema hätte durchaus mehr Raum verdient.
Herr Meyer aus der Kaiserstraße
Von der konzentrierten Stoffmenge sollte man sich aber auch hier oben nicht abschrecken lassen (ebenso wenig vom geschäftig kreuzenden Hauspublikum), denn die Texte lohnen eine gründliche Lektüre und bieten solide Basisinformationen zu einem bis heute oft ideologisch verzerrten Kapitel der Stadtgeschichte. Unter dem Titel »Wir Bayern sind keine Russen«, einem Ernst-Toller-Zitat, und dem Bild der plakativ roten Bavaria spannt sich der Bogen von Lenins Münchner Geheimexil (1900–1902) über die Räterepublik 1919 bis zum frühen Nationalsozialismus und seinen Münchner Aktivitäten in den Zwanzigerjahren. Lenin wohnte unter dem Pseudonym »Meyer« in der Kaiserstraße 53 (heute 46; 1970 wurde die von der Botschaft der UdSSR drei Jahre zuvor angebrachte Gedenktafel von Unbekannten gesprengt). Dort gab er die Revolutionszeitschrift »Iskra« (Funke) heraus, die auf abenteuerlichen Pfaden den Weg zurück nach Russland fand, und in der Siegfriedstraße 14 entstand seine revolutionäre Grundschrift »Was tun?«.
Russische Revolutionäre waren nach der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner an der Münchner Räterepublik beteiligt. Der knappe Monat von ihrer Ausrufung Anfang April bis zur Niederschlagung durch Regierungstruppen und Freikorps am 2. Mai 1919 wird als nüchterne Chronik einer Eskalation nachvollziehbar. Und was Kurt Eisner betrifft, hatte bereits Eröffnungsredner Ude zu Recht gemahnt, dass die Exzesse der Münchner Revolutionsereignisse mit ihm schlechterdings nicht in Verbindung zu bringen seien. Die große Eisner-Ausstellung im Stadtmuseum (ab 12. Mai) wird da hoffentlich zur allgemeinen Aufklärung beitragen.
Von rot zu braun
In der aktuellen Schau sorgt eine Hörstation mit dem BR-Essay »Die Münchner Räterepublik – als Bayern sozialistisch wurde« von Yvonne Maier für Vertiefung. Der »rote« Sozialismus war hier im Nachhinein freilich nur eine Episode: Mit den Balten Alfred Rosenberg und Max Erwin von Scheubner-Richter betreten zwei nationalsozialistische Protagonisten der ersten Stunde mitsamt ihrem Kampfblatt »Aufbau« die Szene, im Zeichen einer sich zunehmend braun verfärbenden Bavaria. Die letzten beiden Tafeln bieten nützliche Übersichten über Chronologie und Topographie der Münchner Ereignisse und Akteure.
Wieder im Erdgeschoss angekommen, beim großen, globalen Panorama des Kommunismus, prägen sich dem Besucher, weit jenseits aller Ude-Anekdoten, unweigerlich zwei Zahlen ins Gedächtnis, mit denen er nachdenklich das Haus verlässt: die mehr als 700 000 Ermordeten des »Großen Terrors« in der Sowjetunion von 1936 bis 1938 und die geschätzten »bis zu 100 Millionen Toten des Kommunismus« insgesamt. ||
DER KOMMUNISMUS IN SEINEM ZEITALTER
»WIR BAYERN SIND KEINE RUSSEN!« – MÜNCHEN UND DIE RUSSISCHE REVOLUTION
Seidlvilla| Nikolaiplatz 1b | bis 23. April| täglich 12–19 Uhr (außer 25./26. 3. und 14.–17. 4.) | Eintritt frei | Buchpräsentation: 28. März, 19 Uhr | Lesungen 31. März u. 23. April | Führung »Lenin in Schwabing«, 11. März / 1. April, 11 Uhr
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