Mit »Little Sister« und »Other People« sind jetzt zwei US-Independent-Highlights der letztjährigen
Festivalsaison bei Netflix verfügbar. Melodramatisch, doch heiter erzählen beide von tiefen persönlichen Wunden, auch von denen einer versehrten Nation.
Irgendwie herrscht ja immer Aufruhr in Amerika, aber es gibt Zeiten, da mutet dieses Land noch mal ein ganzes Stück verrückter an als in seinen Ruhephasen. Dass es sich dabei auch um eine positive, ja schöpferische Kollektivverrücktheit handeln kann, haben wir heute beinahe vergessen. Eine solche Zeit war das Jahr 2008, in ihr spielt auch der fünfte Spielfilm des Independent-Filmemachers Zach Clark. Die Handlung von »Little Sister« vollzieht sich vor der Folie einer politisch sich wandelnden Nation, deren Credos »Hope and Change« sind.
Viel Hoffnung scheint für Colleens Familie anfangs aber gar nicht zu bestehen, ihre Mitglieder haben sich einander entfremdet, die junge weibliche Hauptfigur lebt in New York, wendet sich dort aber nicht dem hedonistischen Hipstertum zu, sondern lebt in einem Orden. Eines Tages erhält die junge Nonne eine E-Mail »Dear Sweat Pea – bitte lies das«, schreibt ihre Mutter, »dein Bruder ist zu Hause!« Ihr Bruder, das ist Jacob, er wurde im Irakkrieg schwer verstümmelt. Sein entstelltes Gesicht will er vor der Welt verbergen. Als Colleen in die Heimat in der Einöde zurückkehrt, wird schnell klar, wovor sie einst geflohen ist.
Zwischen Death Metal und Obama
Im Zentrum der dysfunktionalen Familie steht ihre Mutter, die hat sich eine strikte Diät bestehend aus Rotwein, Gras und Stimmungsaufhellern verschrieben – ihre Gefühlsausbrüche takten den Familienalltag, in dessen Verlauf sich Colleens blasser Dad zumeist seinem Überlebensinstinkt folgend wegduckt. Jacob hat sich in einer Death Metal-Hölle vergraben, die einmal sein Jugendzimmer war und drischt darin den ganzen Tag auf sein Schlagzeug ein. Als Colleen sich ihm anzunähern beginnt und ihm sachte einen Weg zurück in die Welt weist, beginnen nicht nur die inneren Wunden ihres Bruders zu heilen, sondern auch ihre eigenen, die noch aus der Teenagerzeit als Gothic-Girl stammen.
Diesem seltsamen Geschwistergespann bei seinem Weg ins Licht zuzusehen, ist nicht nur deshalb ein Genuss, weil Zach Clark sämtliche Schattierungen der dramatischen Erzählung beherrscht, sondern auch wegen seiner beiläufigen Leichtigkeit des Tons, der in der schrägen Tragikomödie zu komischen, wahrhaft erlösenden Momenten führt. Getragen sind sie von einer verrückten Hoffnung. Von so einer erzählte auch Barack Obamas Wahlnachtrede im Chicagoer Grant Park, die sich als O-Ton durch die Schlussminuten von »Little Sister« zieht. Es gibt strahlend schöne Momente im Leben, die fühlen sich im Nachhinein wie Wunden an.
Dieses schöne Scheißleben
Von denen erzählt auch »Other People«, dieser Film ist gleichsam eine Erzählung, deren Pfade aus der Großstadt in die Provinz, genauer gesagt in die Vorstadt von Sacramento führen. In Chris Kellys Comedy-Drama, das auf dem Sundance Festival seine Premiere feierte, kehrt der junge Schriftsteller David aus New York in sein Elternhaus zurück, um seine Mutter, die an einem seltenen Tumorleiden erkrankt ist, beim Sterben zu begleiten. Mit Davids Leben steht es auch ansonsten nicht zum Besten. Seine Karriere als Witzeschreiber und ambitionierter Drehbuchautor von TV-Serien will einfach nicht in Gang kommen, und obendrein hat ihn auch noch sein Boyfriend sitzen lassen. Davon hat David seinen Eltern noch nicht mal erzählt. Ist vielleicht aber auch besser so, denn sein Vater hat offensichtlich etwas gegen Schwule.
Dass Davids Mutter sterben wird, steht fest, es geschieht in der intimen Eröffnungssequenz des Films. Der Tod ist eine Klammer in »Other People«, innerhalb der sich ein ambivalentes, von Komik und Dramatik getragenes Schauspiel entfaltet: Molly Shannon verleiht der Figur einer sterbenden Mutter Würde, ohne den Zuschauer mit melodramatischen Effekten abzuspeisen; und Jesse Plemons, der in jüngster Zeit vor allem in Nebenrollen wie in der Serienadaption von »Fargo« auf sich aufmerksam machte, zeigt, dass er auch das Format zur vielschichtigen Hauptrolle hat. »Other People« ist ein sehr persönlicher, weil autobiografischer Film. Dessen Regisseur Chris Kelly verarbeitet darin seine persönlichen Erfahrungen.
Heute ist er erfolgreicher Autor der beliebten US-Comedyshow »Saturday Night Live«. Sein Debütfilm
bleibt hoffentlich nicht sein einziger Ausflug auf die Kinoleinwand, denn Kelly besitzt die seltene Gabe, genau zu zeigen, wie es sich anfühlt, dieses schöne Scheißleben. ||
LITTLE SISTER
USA 2016 | Regie: Zach Clark | Mit: Addison Timlin, Ally Sheedy u. a. | 91 Minuten
OTHER PEOPLE
USA 2016 | Regie: Chris Kelly | Mit: Jesse Plemons, Molly Shannon, Bradley Whitford u. a.
96 Minuten || beide Filme sind aktuell
beim Streamingdienst Netflix abrufbar
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