Der Filmkünstler Julian Rosefeldt schuf ein Jahrhundert-Poem für die Gegenwart, das nun in der Stuckvilla gezeigt wird.

Cate Blanchett als News-Moderatorin in »Manifesto« | © Julian Rosefeldt und VG Bild-Kunst, Bonn 2017

»Ich bin im Krieg mit meiner Zeit, mit der Geschichte, mit jeglicher Autorität, die in festen verängstigten Formen steckt.« Einer der vielenSätze in Julian Rosefeldts »Manifesto«, die wie ein Schlag auftreffen im Heute. Eine Kriegserklärungdes US-amerikanischen experimentellen Architekten und Theoretikers Lebbeus Woods aus dem Jahr 1993; in Rosefeldts 13-teiliger Filminstallation erklingt sie im Epilog der Lehrerin, die zuvor durchs Klassenzimmer streifend den Kindern mit Sätzen zur Filmästhetik beigestanden hat: aus Filmmanifesten von Stan Brakhage (1967), Dogma 95, Werner Herzog (1999) und Jim Jarmusch (2002).

Ein Jahrhundert voller Künstlermanifesten hat Rosefeldt zusammen mit Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett und Kameramann Christoph Krauss zu einem großen Poem komponiert und inszeniert. Seit Ende 2015 wurde die Filminstallation in Museen in Melbourne und Sidney, in Berlin, Hannover und auf der Ruhrtriennale, soeben auch in Stuttgart gezeigt, nun ist sie in München in der Villa Stuck zu sehen. Denn Ingvield Goetz hat für ihre Münchner Sammlung ein Exemplar der Edition angekauft.

Krieg der Futuristen

Bei der Arbeit an »Deep Gold« (2014), Rosefeldts Reflexion über die Provokationen Luis Bunuels in »L’Âge d’Or«, war er auf Manifeste der futuristischen Choreografin Valentine de Saint-Point gestoßen: Ohrfeigen für den öffentlichen Geschmack, performative Textcollagen, die Sinnlichkeit propagieren und mit Kunst Krieg führen, auch gegen den Oberfuturisten F. T. Marinetti. Mit dessen erstem futuristischen Manifest von 1909 startet (chronologisch gerechnet) Rosefeld seinen Manifeste-Reigen: Marinetti feierte die neue »Schönheit der Geschwindigkeit«. Den bekannt-berühmten Satz »Ein Rennwagen […] ist schöner als die Nike von Samothrake« aber schnitt Rosefeldt weg, indem er die Manifeste im Einzelnen wie im Verbund miteinander collagierte und kreuzte. Sein poetisches Mittel ist das grundlegende Prinzip der Moderne, die Montage. Aus mehreren Manifesten, verschiedenen Sätzen wurde so eine Rede.

Situiert in unserer Gegenwart – im Falle der die Geschwindigkeit, Gefahr und Verwegenheit feiernden Futuristen: an der Börse, wo in Sekundenbruchteilen aus allen Zeitzonen des globalen Kapitalismus Entscheidungen ineinanderstürzen. Verkörpert als Börsenmaklerin von Cate Blanchett, die alle Protagonistinnen gespielt, all diese Reden gesprochen, aufgeführt, zu neuem Leben erweckt hat. An 30 Drehorten in Berlin, – wo der an der Münchner Kunstakademie lehrende Rosefeldt lebt und Blanchett verfügbar war–, in zwölf Drehtagen.

Die Utopien der Unerlösten

An einem Tag zum Beispiel wurde sie vom aufwändig maskierten Penner zur strahlenden Fernsehmoderatorin umgestylt. Zwölf Personen, fremde Existenzen, unterschiedlichste Haltungen, Gesten, Dialekte und Sprechweisen. Genaugenommen, mehr als diese heilige Zahl: im Fernsehstudio ist der Sprecherin noch eine Außenreporterin unterm Regenschirm zugeschaltet – ein Doppelspiel. Und die Puppenspielerin verfügt in ihrem Jahrhundert-Figuren-Fundus auch über ein Abbild ihrer selbst.

Den zwölf Szenen hat Rosefeldt als 13. Projektion und Prologeine brennende Zündschnur vorgeschaltet: mit dem ersten Satz des Kommunistischen Manifests und der dadaistischen Proklamation des »ständigen Widerspruchs«. Von dem langen 19. Jahrhundert, dessen Technik und Wissenschaft sich so radikal und rasant ständig weiterentwickelte und dessen Leben sich doch in historistische Dekoration und falschen Prunk kleidete, mussten sich die Künstler der Moderne lossagen, absprengen. Zornige Männer: so viel beschworener Mut, so viele Todes- und Kriegserklärungen, ein fortlaufendes Überbieten-Wollen, Beschwörungen neuer Künste und Sensibilitäten, Utopien um Utopien des neuen Menschen. Unerlöst.

Das »Metamanifest«

Ist die Zeit künstlerischer Manifeste zu Ende? Anders als John Baldessari, der 1972 in einem Video mit liturgisch geleiertem Singsang Sol LeWitts »35 Sentences on Conceptual Art« reenacted hat, um, wie er anmerkte, dessen zeitgenössischen Text aus dem verborgenen Dasein in Katalogen zu befreien, hat Rosefeld auf einen historischen Gesamtkatalog zugegriffen, auf die von Alex Danchev herausgegebene Sammlung »100 Artists’ Manifestos«. Ein Buch, das – wie Rosefeldt einmal anmerkte – auf jedes Klo
gehört. So blickt der Künstler zurück, um in der Gegenwart anzukommen. Die Energien von 56 Manifesten hat Rosefeld produktiv gemacht. Ihm gelingt – noch einmal – ein Gesamtkunstwerk.

Er nennt es auch ein »Metamanifest«, und doch ist es vielmehr eine poetisch verstörende Zaubermaschine aus Metamorphosen, die die Zuschauenden mit sich, mit ihrer Gegenwart in Einklang bringen müssen. Jede dieser Lebens und Rede-Szenen dauert zehneinhalb Minuten. Und wie sie zu einem Chor und Zeitcluster zusammenschießen, ist ein Meisterwerk inszenatorischer Präzision und bleibt jedes Mal ein Wunder, wie man auch geht und steht vor und zwischen den Leinwänden, in der Stuckvilla sogar im Hin und Her über zwei Etagen. Ein Fegefeuer, in dem man sehr lange verweilen möchte. Eine Zündschnur ohne Schluss-Satz. Der Epilog der Lehrerin freilich endet so: »Morgen beginnen wir gemeinsam mit dem Bau einer neuen Stadt.« ||

JULIAN ROSEFELDT. MANIFESTO
Museum Villa Stuck | Prinzregentenstr. 60
16. Feb. bis 21. Mai | Di–So 11–18, erster Freitag im Monat bis 22 Uhr | Künstlergespräch mit Julian Rosefeldt: 15. Feb./25. April,20 Uhr | Kuratorenführung: 22. Feb./19. April, 17 Uhr | Vortrag von Thomas Girst: 23. Feb., 20 Uhr

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