Vor 50 Jahren starb der österreichische Romancier Heimito von Doderer. Eine Wiederentdeckung.
Die Münchner Leopoldstraße kann ein gefährliches Pflaster sein. Auf dem Postamt wird der Protagonist der »Kürzestgeschichte« »Vorsicht auf Reisen!« in eine Prügelei verwickelt. Ein anderer bekommt »unvermutet zwei kräftige, klatschende Ohrfeigen« von einem Geschöpf, das der Erzähler bald als »Peinigl« (so auch der Titel) identifiziert: München hat im Werk des vor 50 Jahren verstorbenen Österreichers Heimito von Doderer vor allem Spuren grotesker Gewalt hinterlassen.
1936 zog der vergeblich auf seinen Durchbruch wartende Jungautor, der 1935 in Wien in die NSDAP eingetreten war, nach Dachau, in der Hoffnung, sich dem neuen Reich als nationaler Schriftsteller andienen zu können, im Gepäck ein Romanprojekt mit dem Titel »Die Dämonen der Ostmark«. Immerhin fand er eine lebenslange Heimat bei dem Münchner Verlag C. H. Beck. Der gedenkt heuer dieses Autorenjubiläums mit einigen Neupublikationen, darunter dem frühen Kriminalroman »Ein Mord, den jeder begeht« (1938), in dem der Protagonist auf der Suche nach dem Mörder seiner obsessiv begehrten Schwägerin sein Leben verfehlt und letztlich doch bei sich selbst landet. Die Verblendung gegenüber der eigenen Schuld überlebt er nicht, anders als der Autor, der sich schon hier daranmacht, die eigene ideologische Verstrickung erzählerisch zu überwinden.
1957 wurde Heimito von Doderer mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet
Doch der Erfolg stellte sich erst nach Kriegsende ein, als Doderer zum genauen Chronisten jener Stadt wurde, in die er bereits 1937 wieder zurückgekehrt war. Die großen Wiener Gesellschaftspanoramen »Die Strudlhofstiege« (1951) und »Die Dämonen« (1956) entwerfen nicht nur ein – durchaus auch kulinarisch-touristisches – Bild der Großstadt zwischen 1910 und 1927, sondern machten der österreichischen Nachkriegsgesellschaft ein epochenübergreifendes Identifikationsangebot, das 1957 folgerichtig mit dem Großen Österreichischen Staatspreis belohnt wurde. Der jüdische Remigrant Hans Weigel ernannte ihn zum »Austriae Poeta Austriacissimus«, ein der Rezeption in Deutschland eher unzuträglicher Superlativ, wie sich zeigen sollte.
Doderers geschliffener Stil und sein Humor machen seine Romane und Erzählungen auch heute noch lesenswert. Dass sich hinter der Bürokratie- und Wissenschaftssatire »Die Merowinger oder Die totale Familie« (1962) eine derb-komische Auseinandersetzung mit Aggression und Vorurteil verbirgt, rückt erst in den letzten Jahren in den Blick, ebenso wie die Nähe der Kurzprosa zur Avantgarde eines H. C.
Artmann oder Oswald Wiener. Der ebenfalls neu aufgelegte letzte vollendete Roman »Die Wasserfälle von Slunj« (1963) lässt sich durchaus auch als Ratgeber gelingenden Lebens lesen, bei dem äußere Haltung, Kleidung und geordnete Wohnverhältnisse die Determiniertheit der Herkunft zumindest einiger Nebenfiguren überwinden helfen.
Was verbindet von Doderer mit Hitchcock?
Versehen sind die Jubiläumsausgaben (die »Strudlhofstiege« erschien bereits 2013 mit einem instruktiven topografischen Anhang Stefan Wintersteins) mit Nachworten von Literaten, die oft mehr über sich als über ihren Gegenstand preisgeben; positiv sticht hier Eva Menasse mit ihrer gründlichen Lektüre der »Wasserfälle« hervor, eher negativ Heinrich Steinfest, der konsequent den Namen des Protagonisten im »Mord« falsch schreibt. Rühmenswerter ist da die Lektürehilfe des Wiener Literaturkritikers Klaus Nüchtern, der den »Kontinent Doderer« weder biografisch noch streng werkimmanent, sondern anhand klug gewählter (letztlich auf die Hauptwerke rekurrierender) Generalthemen erkundet. Da warten überraschende Querverbindungen zu Alfred Hitchcocks Suspense-Konzept (»Herr von Doderer, wie haben Sie das gemacht?«) oder erhellende Auskünfte über das literarische Leben im Österreich der Nachkriegszeit (»Von der NSDAP zum Triple-A«).
Wahre Perlen finden sich in den Anmerkungen, wo eine »Gmoaratschn« als »Distributorin von personenbezogenen Detailinformationen aus dem Privatbereich« erklärt wird. Dass Thomas Bernhard den Tod des Kollegen mit den Worten »Jetzt ist die Bahn frei, jetzt komme ich« kommentierte, sollte sich zulasten Doderers bewahrheiten. Umso wünschenswerter wäre seine Neuentdeckung als großer Erzähler und Humorist. ||
HEIMITO VON DODERER:
EIN MORD DEN JEDER BEGEHT. ROMAN
Jubiläumsausgabe | Mit einem Nachwort von
Heinrich Steinfest | 382 Seiten 24 Euro
DIE STRUDLHOFSTIEGE ODER MELZER UND DIE TIEFE DER JAHRE. ROMAN
Jubiläumsausgabe | Mit einem topografischen
Anhang von Stefan Winterstein, Nachwort von
Daniel Kehlmann | 944 Seiten 28 Euro
DIE MEROWINGER ODER DIE TOTALE FAMILIE. ROMAN
Jubiläumsausgabe | Nachwort von Denis Scheck
377 Seiten | 24 Euro
DIE WASSERFÄLLE VON SLUNJ. ROMAN
Jubiläumsausgabe | Nachwort von Eva Menasse
405 Seiten | 24 Euro | alle C.H. Beck, 2016
KLAUS NÜCHTERN: KONTINENT DODERER. EINE DURCHQUERUNG
C.H. Beck, 2016 | 352 Seiten| 28 Euro
12. Januar
»KLASSIKER DES MONATS«
Ein Abend zum 100sten Geburtstag von Heimito
von Doderer mit Klaus Nüchtern | 20 Uhr |Literaturhaus, Saal
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