Ein Bestseller als Bühnen-Langweiler:Alexander Giesche adaptierte für die Kammerspiele »8 1/2 Millionen« von Tom McCarthy.
Reenactment heißt das neudeutsch, wenn jemand eine vergangene Wirklichkeit nachspielen will. Im Performance-Bereich boomen Reenactments seit einigen Jahren. Die Psychotherapie setzt die Methode zur Trauma-Bewältigung ein. Genau das tut der namenlose Protagonist in dem Roman »8 1/2 Millionen« des Briten Tom McCarthy. Ihm ist nämlich ein mysteriöses Technologieteil auf den Kopf gefallen, seitdem leidet er an Gedächtnisverlust. Aber der Unfall bringt ihm einen auch reichlich mysteriösen
Schadenersatz von 8,5 Millionen Pfund ein. Den Reichtum verwendet der Held nun dafür, die wenigen zurückkehrenden Erinnerungsfetzen seines Lebens detailgetreu nachbauen und nachspielen zu lassen. In der Hoffnung, dadurch ins wirkliche Leben zurückzufinden, zu dem er keinen Bezug mehr hat.
Tom McCarthy schrieb seinen Erstling »Remainder« 2001 mit 32 Jahren, veröffentlicht wurde er erst fünf Jahre später in Paris und schnell ein Sensations-Erfolg. 2009 erschien er auf Deutsch unter dem Titel »8 1/2 Millionen«, 2015 verfilmte ihn Omer Fast. Ein toller Stoff: Ein Mensch, der seine Lebensrealität verloren hat, will diese durch perfekte Simulation wiederherstellen. Das klingt nach einer virtuellen Welt, und das hat wohl auch den 34-jährigen Regisseur Alexander Giesche, den Intendant Matthias Lilienthal als Zukunftshoffnung an die Kammerspiele geholt hat, daran interessiert.
Aber wie schon in seinem ersten Kammerspiele-Projekt »Yesterday you said tomorrow« inszeniert Giesche auch hier völlig am Publikum vorbei. Was die Schauspieler dort hinter magischen Computerbrillen erleben, hört der Zuschauer nur als Gestammel von Menschen, die sich jeder in einer anderen Pseudo-Wirklichkeit aufhalten. Hier versteht man immerhin den Plot. Doch der Versuch des Helden, die Realität zu simulieren (nicht virtuell, sondern mit echten, gekauften Darstellern), scheitert genauso wie der Versuch des Regisseurs, das Ganze zunehmend in ein Videospiel zu überführen. Also wiederum in die Unwirklichkeit – und das geht am Kern des Romans vorbei.
Denn in dem wird am Ende ein echter Darsteller bei einem angeblich fingierten Bankraub ganz real erschossen. Die Szene ist trist und karg: eine weiße Drehscheibe, in drei Segmente geteilt (Bühne: Nadia Fistarol), von Hand angeschoben. Darauf steht Franz Rogowski als Mann ohne Gedächtnis meist ziemlich steif herum und nuschelt seine Erzählung vor sich hin. Dank einer umgeschnallten Videokamera darf man ihn visuell durch München begleiten. Seinem agilen Organisations- und Erfüllungsgehilfen Naz (Christian Löber) und dessen Miet-Akteuren gibt er akribische Anweisungen für die perfekte Rekonstruktion seiner vagen Erinnerungen. Vom Geruch gebratener Leber im Treppenhaus über einen Rachmaninow stümpernden Klavierspieler bis zu den Katzen auf dem Dach muss im eigens gekauften Londoner Straßenzug alles genau stimmen. Die erhoffte Erlösung bleibt aus, dafür tritt die tödliche Katastrophe ein.
Bis dahin dauert’s fast drei quälend lange Stunden mit wenigen putzigen Einfällen: Weiße Plüschkatzen wackeln mit den Köpfen, der Klavierspieler baut den Fehler automatisch ein, die Bankräuber tragen Sturmhauben und Selfiesticks. Die fulminante Actionfilm-Auto-Raserei (Video: Florian Schaumberger) am Schluss macht die lähmende Langeweile davor nur umso deutlicher. Traurig, wenn das Theater Hollywood als letzte Rettung zitieren muss. ||
8 1/2 MILLIONEN
Kammerspiele, Kammer 2 | 10., 30. Dez.
19.30 Uhr | Tickets: 089 23396600
oder online
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