Lernen und Trance, Kampf und Reflexion – die Tanzwerkstatt Europa feiert Leibesarbeit und Leibesglück.

Lucinda Childs’ erstes Solo »Pastime«, (1963), getanzt von Ruth Childs © Gregory Batardon

Kein Festival, sondern eine Werkstatt sollte und soll es sein. Also nicht nur ein kuratierter Goldregen, der die Zuschauer beglückt und beseelt, sondern auch ein Produktionsort, der dazu einlädt, selbst Teil davon zu werden. Die Tanzwerkstatt Europa, die 1991 von Walter Heun ins Leben gerufen wurde und noch immer unter seiner Leitung pulsiert, fährt diesbezüglich ein besonders offenes Programm: 10 Tage lang gibt es nicht nur Aufführungen, sondern auch Workshops und sogenannte Labs, die von namhaften Tanzschaffenden aus der zeitgenössischen Szene geleitet werden wie Laurent Chétouane, Siobhan Davies oder German Jauregui, dem langjährigen Assistenten von Wim Vandekeybus. Neben solch international gefeierten Größen war auch die Münchner Szene über die Jahre hinweg gut vertreten, und eine Bühne für Newcomer wird ebenfalls mitgedacht – die Tanzwerkstatt funktioniert inklusiv. Das spürt man am deutlichsten in der Hinwendung zu Amateuren, die bestimmte Workshops belegen dürfen. Mit diesem Konzept steht das Festival in der Tanzwelt zwar nicht alleine da, ist jedoch in einer Stadt wie München, in der vieles leider immer schon auf Hochglanz poliert ankommt, eine dringend notwendige Ansage.

So wird München in allsommerlicher Hitze zu einem Schmelztiegel der Tanzkultur aus Profis und Laien, Lehrenden und Lernenden, Zuschauenden und Teilnehmenden, Neuen und Altbekannten. Gestartet wird mittendrin, auf dem Marienplatz – mit einer Gratis-Performance des Spaniers Quim Bigas (2. August). Was dieses Jahr wegen mangelnder finanzieller Unterstützung leider fehlen wird, ist die theoretische Rahmung und Reflexion durch ein begleitendes Symposium, das seit 2011 eigentlich fester und richtungsweisender Bestandteil der Tanzwerkstatt ist. Um diese Lücke zu füllen, hat sich das Festival 2017 ein besonders leuchtendes Motto auf die Fahnen geschrieben: den Tanz ordentlich abfeiern. »Den Tanz, der glücklich macht. Den Tanz, der den Körper aus der Bahn wirft. Den Tanz, den man sich gegen alle Widerstände erkämpfen muss. Den Tanz, der Geschichte schrieb. Den Tanz, der uns in Trance versetzt. Den Tanz, den wir lernen können. Den Tanz, der denkt.« – so Walter Heun. Das klingt erst einmal redundant, ist doch jedes Festival eine Feier seiner Disziplin. Was brauchen wir, hier und heute?

Wäre es nicht an der Zeit, sich ernsthaft zu fragen: wer wie was ist eigentlich Europa?Schaut man ins diesjährige Performance-Programm, sucht man vergeblich nach brandaktuellen Auseinandersetzungen, findet jedoch reichlich Relevantes aus den letzten Jahren. Das liest sich dann ein bisschen wie der dritte Aufguss, schmeckt aber trotzdem noch ganz gut. Ian Kaler (3./4. 8.) setzt in seiner weiterentwickelten Solo-Praxis die Definition von Körper und Körperlichkeit in die Unschärfe, Thomas Hauert/ZOO (6. 8.) zeigt improvisationsbasierte Formen von Interaktion mit Musik. Drei Solos von Lucinda Childs werden von ihrer Nichte reenacted (7. 8.). Auch ein Münchner Choreograf ist im Programm: Moritz Ostruschnjak zeigt noch einmal »Text Neck« (10./11. 8.). Aufregend verspricht die aktuelle Arbeit von Nacera Belaza zu werden (8. 8.), die – wie einige andere auch – nicht zum ersten Mal bei der Tanzwerkstatt Europa zu Gast ist. Die gebürtige Algerierin begeistert durch die Intensität ihrer repetitiven, kraftvoll-meditativen Kreationen und zeigt das Solo »La Nuit« und mit »Sur Le Fil« (2016) ihre aktuellste Choreografie. Milan Tomášik ist mit seinem Solo-Stück nicht nur als Tänzer und Choreograf ein großer Gewinn, sondern auch und besonders als Lehrender zweier Workshops (nicht nur für Profis!).

Doris Uhlich in »mehr als genug« © Andrea Salzmann

Gleiches und noch viel mehr gilt für Doris Uhlich. Mit dem, was und wie sie es tut, ist dieÖsterreicherin wohl eine der schillerndsten Choreografinnen der zeitgenössischen Tanzszene. Die von ihr entwickelte Fetttanztechnik und das dazugehörige entwaffnend sympathische Auftreten lassen Herzen und Schlagzeilen höher schlagen. Zwischen 2009 und 2010 erprobte Uhlich die Technik für das Stück »mehr als genug«, das nun in München zu sehen ist. Darin denkt sie tanzend, sprechend und telefonierend darüber nach, wie der Körper zum Markenzeichen wird, hinterfragt Schönheits- und Körpernormen und rückt dem Fett, der Haut und dem Fleisch dabei ordentlich auf die Pelle. Herzstück des Ganzen ist der selbst zum Markenzeichen gewordene Pudertanz, für den Uhlich ihren nackten Körper in barockhafter Opulenz mit Babypuder einstaubt. Und dann wird das Fett getanzt – die nackte Freude.

Parallel zu »mehr als genug« bietet sie einen Workshop zur Fetttanztechnik an (»everybody more than naked«, 5./6. 8.) und erklärt im Interview, worum es sich dabei handelt. »Fetttanz ist eine virtuose und emotionale Technik geworden, die aufrüttelt, umstrukturiert und vibriert. Diese Vibrationen schlagen Wellen und das nackte Fleisch wird in Wallung gebracht. Es fliegt, schwingt, schwitzt und macht sich hörbar.« Man merkt sofort, dass Uhlich ein ganz eigenes Vokabular für ihre Arbeit entwickelt und etabliert hat, das die unendlich große Freude am Körper in sich trägt. Den Körper feiern, das Fleisch rocken. »Ich sage immer: die Körper lachen« – und das glaubt man ihr sofort. In ihrer choreografischen Arbeit geht es Uhlich darum, einen Tanz zu finden, der aus der Materialität des Fleisches heraus entsteht. Wenn das Fleisch in Schwingung gebracht wird, aktiviere sich damit ein körperliches Denken. Die Nacktheit, die sie auf der Bühne und in den Workshops sucht, ist eine ganz spezifische: »Ich präsentiere mich nicht nackt, sondern ich bin nackt. Auch im Theaterraum. Das Voyeuristische im Zuschauen wird ja irgendwann langweilig. Dann wird es spannend und der Blick geht plötzlich über Äußerlichkeiten hinaus.«

In Uhlichs Arbeit kommt die politisch aktionistische Ebene nicht über den moralischen Zeigefinger, sondern über die Affirmation des Menschseins, über die Vibration des Fleisches, seine Wucht und Schönheit. Obwohl sie natürlich mit aller Präzision auch den Tanz sucht und nicht die Therapie-Sitzung, ist der körperpsychologisch befreiende Effekt ihrer Workshop-Arbeit nicht von der Hand zu weisen. Es sei immer irgendwie lustig. Und am Ende, so Uhlich, mag sich keiner wieder anziehen. Wer sich selber überzeugen will, ist herzlich eingeladen, »open level« heißt: jeder Körper willkommen. Und vielleicht ist das genau die Art von Feier, die wir alle brauchen.||

TANZWERKSTATT EUROPA
Verschiedene Spielorte| 1.–12. August
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