Endlich einmal nicht gegen etwas, sondern ausdrücklich für etwas auf die Straße gehen! Die Idee, für die sich Pulse of Europe Anfang des Jahres in Bewegung gesetzt hat – in mittlerweile 123 Städten und 19 Ländern –, ist der europäische Gedanke. Warum lohnt sich der Einsatz dafür, fragten wir zwei der Münchner Aktivisten.

John Friedmann und Anna Schwarzmann von Pulse of Europe, München © Christiane Pfau

Man fühlt sich an die Dynamik der APO, an das WoodstockFeeling der großen gemeinschaftlichen Ideen der 60er und 70er-Jahre erinnert, wenn man hört, was Anna Schwarzmann und John Friedmann von der Münchner Gruppe von Pulse of Europeerzählen. Außerparlamentarisch sind auch sie, aber sie sehen sich nicht als Opposition: Die 32-jährige RechtsanwältinAnna Schwarzmann, in einer Münchner Kanzlei für Kartellrecht zuständig, sprüht vor Energie. Sie und der Schauspieler John Friedmann (geboren 1971), der nicht weniger leidenschaftlich sprudelt, erzählen von den Anfängen und Perspektiven der Initiative Pulse of Europe (PoE). Wir wollten wissen, was die beiden – stellvertretend für Hunderte von Aktivisten in ganz Europa – antreibt.

Was hat den Anstoß zu der Initiative in München gegeben?
Anna Schwarzmann: Das letzte Jahr hat da viel ausgelöst. In Europa ist nichts mehr, wie es war. Die gesellschaftlichen Gewichtungen verschieben sich. Das Frankfurter Ehepaar Daniel und Sabine Röder sagte im Herbst letzten Jahres: So kann es nicht weitergehen. Im November organisierten sie eine Testdemonstration in Frankfurt, ab Januar fand sie regelmäßig statt. In München gibt es seit Mitte Februar 2017 jeden Sonntag PoE-Demonstratio nen. Bei Pulse of Europe trifft man nicht die klassischen Demonstranten, sondern auch Leute, die bisher nie auf die Straße gegangen sind. Wir hatten alle unabhängig davon erfahren und waren im selben Moment davon begeistert, das auch in München zu machen. München war dann eine der ersten Städte, die dabei waren.

John Friedmann: Man musste was machen, nach Trump und Brexit, Pegida und AfD, und da war PoE der ideale Anknüpfungspunkt. Wir sind ganz nah dran am Zeitgeschehen und können daran mitwirken. Wenn uns vor ein paar Monaten jemand gesagt hätte, dass die Franzosen einen Proeuropäer wählen würden, hätte das ja keiner geglaubt. Jede Bewegung erzeugt eine Gegenbewegung. Nach dem Brexit und dem Phänomen Trump wurde vielen Menschen klar, dass Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Freizügigkeit und Menschenrechte absolut schützenswerte Werte sind. Es gab lange keine leidenschaftlichen Fürsprecher für Europa in der Politik. Leute, die Kleinigkeiten kritisiert haben, haben sich Gehör verschafft. PoE holt die Themenhoheit zurück. Die Aufgaben sind konkreter geworden. Wenn man sich anschaut, was die Flüchtlingsbewegungen 2015 allein in der Münchner Bürgerschaft bewirkt haben – das gab es vorher nie. Die Menschen merken: Die Welt ist ein Dorf geworden, und man kann sich nicht einmauern. In Rumänien gehen Zehntausende auf die Straße, da kriege ich eine Gänsehaut.

Macron hat die Wahl in Frankreich gewonnen. Was heißt das für PoE?
JF: Wenn Deutschland und Frankreich sich proeuropäisch verhalten, hat das eine große Bedeutung. Es gibt so etwas wie historische Zeitfenster, und mit diesen zwei großen proeuropäischen Nationen kann man jetzt etwasbbewegen. Die Frage ist: Muss man Europa neu bauen? In unterschiedlichen Geschwindigkeiten, ohne jemanden auszuschließen? Wir als PoE sehen uns als Antreiber, Aufwecker, Anwalt für Europa. Was Greenpeace für die Umwelt ist und Amnesty International für die Menschenrechte, könnte PoE für die europäische Idee sein. Ein Schutzpatron, ohne eine Partei zu sein. Wir bieten keine Antworten, wir fordern sie bei den Politikern ein.

AS: Wir wollen von den Politikern wissen: Für was genau steht Ihr? Wir fordern Transparenz, wir wollen wissen, was wir wählen, wenn wir Euch wählen.

Kann oder will Pulse of Europe eine Partei werden?
JF: Nein, wir streben nicht an, eine Partei zu werden.

Hat Dauermobilisierung ohne konkrete politische Inhalte eine reale Chance?
JF: Ja, absolut. Wenn wir als Vergleich nehmen, was der Unterschied ist zwischen den Grünen und Greenpeace, dann wird unser Ansatz vielleicht deutlicher: Greenpeace steht für Umweltthemen, mit denen sich auch ein erzkonservativer CSUler identifizieren kann, der aber nie die Grünen wählen würde. Wir fordern Antworten von den Politikern, aber wir sagen nicht, wie es gehen muss. Überbietet Euch bitte mit Antworten für Europa! In den letzten Jahren gab es sehr viel theoretisches Europa, aber es gab nicht das emotionale Europa. Den europäischen Pulsschlag hat mir nie jemand vermittelt. Den spüre ich erst jetzt.

Liegt darin das Neue? Die Emotionalität? Abseits von EU-Normen für Gurkenlängen?
AS: Die positiven Aspekte der europäischen Idee sind in den letzten Jahren viel zu kurz gekommen. Dafür haben sich alleimmer über unsinnige EU–DIN-Verordnungen aufgeregt. Einerseits zu Recht – aber andererseits muss man doch auch sagen: Wie gut muss es uns gehen, dass wir uns über eine Gurkenverordnung so aufregen können? Das letzte Jahr hat uns gezeigt, was wir für eine großartige Basis haben, für die es sich einzutreten lohnt.

JF: Was in den letzten Jahren fehlte, war ein leidenschaftlicher Fürsprecher für Europa. Frau Merkel macht das gut, aber ebenauch sehr sachlich. Das Gefühl, was die europäische Gemeinschaft ausmacht, blieb da auf der Strecke. Das bringen wir ins Spiel. Viele Leute haben Kleinigkeiten so plakativ kritisiert, dass sie in den Köpfen vieler Menschen hängen geblieben sind. Wir bringen die positiven Seiten auf den Tisch. Europa ist ein Gefühl, das für viele positive Werte steht. Die Wertigkeiten werden deutlicher, wenn sie gefährdet oder ganz weg sind. Wie Grenzkontrollen. Erst wenn die Grenzen nicht mehr offen sind, merkt man, was man verloren hat: im schlimmsten Fall die Freiheit.

Muss man Angst haben, dass PoE jetzt die Luft ausgeht?
JF: In Zukunft machen wir die Demos monatlich. Aber die Thematik, die Brisanz wird bleiben. Wir werden weiterhin sichtbar sein und als Sprachrohr wirken.

AS: Wir fahren die Demos runter und einzelne Kampagnen fahren wir hoch. Was wir genau planen, wird noch nicht verraten. Überraschung!

JF: Nach meiner Einschätzung sind wir im Moment bei zehn Prozent von dem, was wir machen wollen. Da ist noch so vielLuft nach oben! Wir feiern eine große Party, die alle möglichen Menschen integriert. Damit PoE seinen Charme bewahrt, arbeiten wir an größeren Radien: Völkerverständigung hat nichts mit kleingeistigem Hickhack zu tun. Europäische Solidarität ist eine Herausforderung, der wir uns stellen. Das kann täglich gelebt werden.

Wäre denn da nicht eine erste konkrete Forderung ein Interrail-Ticket für jeden zum 18. Geburtstag?
AS: Wir plaudern jetzt nicht aus dem Nähkästchen (schmunzelt), aber wir haben ganz konkrete Ideen, die wir bald umsetzen wollen. Eine Videokampagne mit prominenten Pulse-ofEurope-Testimonials soll dem »Puls« ein Gesicht geben. Im Moment sind wir in einer Übergangsphase. Wir werden sehen, wohin uns der Weg führt.

Pulse of Europe versteht sich als Leuchtturm. Vielleicht wird es ja sogar ein Prüforgan?
JF: (lacht) Na ja, wir sind jetzt nicht der Europa-TÜV.

Vielleicht ja doch? Es wäre doch sehr sinnvoll, wenn der Einfluss größer würde.
JS: Wir haben Leute im Team, die sich auch bei »Stand up for Europe« engagieren. Diese Organisation hat ein konkretes politisches Programm und behält es sich vor, bei den Wahlenfür das Europäische Parlament als Partei anzutreten. Das ist ein unglaublich aufwendiger Prozess. Als Bewegung können wir dagegen viel schnelle rund extrem niederschwellig aktiv werden, und das ist unser großer Vorteil. Keine Vereinsstrukturen, sondern höchst bewegliche Module.

Was sagen Ihre Eltern zu Ihrem Engagement?
JF: Mein Vater lebt in Amerika und weiß, worauf man in den USA verzichten muss. Er findet PoE super. Mein Vater ist Deutscher, mein Opa Franzose, meine Oma war Italienerin. Man muss aber keine multieuropäischen Wurzeln haben, um Europäer zu sein. Ich sage immer: Die Bayern – ich mag die sehr
gern, hier bin ich groß geworden. Sie sind klug, hinterfotzig, und zum großen Tei lein sehr gut aussehender Teil von Deutschland. Und warum? Weil alle hier durchmarschiert sind: die Schweden, die Franzosen, natürlich die Römer. Alle haben hier ihre Gene hinterlassen, und deshalb sind die Bayern per se schon seit Jahrhunderten ein guter, bunter Mix. Die Idee vom »deutschen Nationalstaat« ist vor diesem Hintergrund total absurd.

AS: Meine Eltern sind stolz, unterstützen mich sehr und demonstrieren nicht nur immer mit, obwohl sie nicht mehr die Jüngsten sind, sondern tragen PoE in ihren Alltag und bringen auch jedes Mal Freunde und Bekannte mit. Meine Eltern bei den Demos in der ersten Reihe fahnenschwenkend zu sehen, freut mich von Herzen und berührt mich jedes Mal zutiefst.

Wie sieht Europa idealerweise in den nächsten fünf biszehn Jahren aus?
JF: Europa wird noch mehr als bisher ein Leuchtturm für die Welt. Hier haben Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Freizügigkeit einen Stellenwert wie nirgendwo sonst in der Welt. Vielleicht wird es ein »Europa der Regionen« geben, das mit dem bisherigen Verständnis von Nationalstaaten nichts mehr zu tun hat.

AS: Wir wollen mehr Bürgernähe. Deshalb haben wir das offene Mikro, vor dem jeder drei Minuten lang seine Meinung sagen kann. Die schweigende Mehrheit kann sich bei PoE den Raum zurückerobern – für Europa. Den Menschen, die zu uns kommen, wird zunehmend klar, dass konstruktive Eigeninitiative ein Hauptmerkmal der Demokratie ist. Das motiviert, begeistert und macht uns glücklich. Insieme! ||

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