Beim Festival »Wortspiele« im Muffatwerk stellt Lena Gorelik ihren neuen Roman »Mehr Schwarz als Lila« vor, eine Geschichte über die emotionalen Verstörungen einer 17-Jährigen, deren Verhalten während einer Klassenfahrt nach Auschwitz einen Skandal auslöst.

Sie sind schon mehrmals bei den »Wortspielen« aufgetreten. Was macht für Sie deren besonderen Reiz aus?
Ich finde dieses Festival großartig: Man lernt viele neue Autoren kennen, und die Stimmung hat nichts akademisch Feierliches. Man kann Literatur ganz unmittelbar erleben. Zudem sind die »Wortspiele« für mich mit starken Gefühlen verbunden. Dort fand meine allererste Lesung statt. Ich hatte an einem Creative´-Writing-Kurs an der Uni teilgenommen, und Johan de Blank hat vier von uns eingeladen. Wir waren sozusagen die Vorband. Ich war total nervös und hab’ den ganzen Tag geübt. Und dann habe ich völlig unerwartet den Publikumspreis gewonnen. Das war unglaublich! Ich freue mich richtig darauf, dort wieder zu lesen.

Wie ist die Idee für Ihren neuen Roman entstanden?
Ich wollte schon lange einen Coming-of-Age-Roman schreiben, und ich beschäftige mich viel mit dem Thema Erinnerungskultur. Der Zugang dazu ist üblicherweise sehr pädagogisch-normativ. Ich wollte das einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten und eine andere Sprache dafür finden. Das zentrale Gefühl der Jugend ist Unmittelbarkeit. Alles trifft einen, schmeißt einen um, man hat zu nichts Distanz. Diese Unmittelbarkeit wollte ich widerspiegeln. Aber ich fand lange nicht den richtigen Ton. Ich habe an diesem Roman länger als an allen meinen anderen Büchern gearbeitet. Ich hatte richtige Schreibkrisen. Irgendwann war ich so verzweifelt, dass ich gesagt habe: Ich fahre jetzt nach Auschwitz. Was ich dort sah, hat mich total schockiert: Beinahe alle haben Selfies gemacht, Eltern fotografierten ihre Kinder vor der Gaskammer: »Spatzel, stell dich da mal hin. Ja, so ist es schön.« Junge Japanerinnen haben sich fürs Foto den Lippenstift nachgezogen. Ich war fassungslos. Das ist heute die ganz normale Realität in Auschwitz, und darüber wird kaum geredet.Alex löst mit einem Kuss in Auschwitz heftige Empörung aus.Auschwitz-Besuche sind mit großen emotionalen Erwartungen befrachtet. Wir erwarten – zu Recht –, dass solche Gedenkorte erschütternde Gefühle wecken. Etwa: Du musst weinen. Das erzeugt einen Druck,mit dem Jugendliche schwer umgehen können.

Die Jugendlichen in Ihrem Roman spielen mit Grenzüberschreitungen. Tabus gelten gern als ein Synonym für Lügen. Aber führen uns Trump und die neuen Rechten nicht gerade vor, dass Gesellschaften ohne Tabus zu verrohen drohen?
Ja, natürlich. Wobei man unterscheiden muss zwischen echten und vermeintlichen Tabubrüchen, die instrumentalisiert werden. Wir erleben zurzeit, wie dadurch ein Wandel in der Sprache, im Sagbaren stattfindet. Wir brauchen eine offene Debattenkultur, es muss erlaubt sein, über alles zu diskutieren. Aber wenn man rassistische und antisemitische Gedanken als mutige Tabubrüche instrumentalisiert, werden Schleusen geöffnet. Mir macht es wahnsinnige Angst, was gerade passiert.

Sie kamen als 11-Jährige aus Russland nach Deutschland. Wie haben Sie die deutsche »Erinnerungskultur« erlebt?
Das »Dritte Reich« war in der Schule als Thema allgegenwärtig. Viele meiner Mitschüler haben gesagt: Nicht schon wieder! Da entstand eine Art Abwehr. Die Schüler bekommen vermittelt, was sie fühlen sollen. Doch um tiefe Gefühle wie Trauer, Verzweiflung, Verstörung, Wut zuzulassen, sich mit der möglichen Schuld der eigenen Großeltern auseinanderzusetzen, muss man innere Blockaden lösen. Tatsächlich aber baut der pädagogisch normierte Druck eher emotionale Blockaden auf. Ich erinnere mich, wie ich als Schülerin über das Auschwitz-Gelände lief und dabei meine eigenen Reaktionen überprüfte. Und ich bin da ja als Jüdin eher entspannter.

Entspannter?
Ich habe nicht die Pflicht, mich der Schuldfrage zu stellen. Ich muss mir nicht überlegen: Was hat mein Großvater gemacht? Ich gehöre sozusagen auf die gute Seite.Waren Sie die einzige jüdische Schülerin? Ja. Ich habe mein Jüdischsein in Deutschland ganz neu erfahren. In Russland bedeutete es, ausgegrenzt zu werden. Wenn meine Großtante getrunken hatte, begann sie jiddische Lieder zu singen, und sofort legten alle die Finger auf die Lippen: »Pscht, pscht! Das hören die Nachbarn.« Ich habe bald gemerkt,
dass mein Judentum ein großes Ding ist für die Deutschen. Ich wurde ständig in andere Klassen geschickt und musste erklären, wie die Juden Pessach feiern. Als Rabin getötet wurde, musste ich für die gesamte Israel-Politik herhalten. Ich war in der siebten Klasse und hatte davon keine Ahnung. Ich wurde benutzt, und irgendwann habe ich mein Jüdischsein selbst benutzt. Ich konnte an jüdischen Feiertagen die Schule schwänzen, ohne je eine Synagoge zu betreten. Ich hab das dann raushängen lassen: Ich bin anders, weil ich jüdisch bin.

Sie haben in Deutschland zunächst in einer Flüchtlingsunterkunft gewohnt. Die Erinnerung an dieses – wie Sie es formulierten – »Sich-falsch-Fühlen«, »sich schämen für das, was man ist« hat sie lange verfolgt.
Ich habe immer versucht, möglichst deutsch zu sein, alles perfekt zu machen. Meine Eltern waren mir peinlich, weil sie russisch waren. Diese kindliche Angst aufzufallen, anzuecken, konnte ich nur schwer abstreifen. Später pendelte ich zwischen zwei Extremen: Überanpassung und demonstratives Anderssein. Es war ein langer Prozess, mich davon zu befreien, und dafür war das Schreiben ganz wesentlich. Es hat viele Bücher und Essays gebraucht, bis ich einfach ich selbst sein konnte.

Ihre ersten Bücher waren autobiografisch gefärbt. Mit »Null bis unendlich« haben Sie begonnen sich davon zu lösen und erstmals auch Kritik geerntet. War das eine schmerzliche Erfahrung?
Schlechte Kritiken tun immer weh. Was mich vor allem getroffen hat, war, dass es gar nicht um literarische Kriterien ging. Ich hatte das Gefühl, dass man mich angreift, weil ich nicht in der
Schublade bleibe, in die man mich gesteckt hat. Themen wie Judentum und Migration sind mit einer wahnsinnigen Ernsthaftigkeit belastet. Da ist es superangenehm, wenn jemand wie ich daherkommt und leicht und witzig darüber schreibt. Das habe ich bedient, und es war damals richtig und wichtig für mich. Aber nach »Lieber Mischa« wollte ich mich anderen Themen zuwenden. Vielleicht brauchte ich auch nicht mehr auf dieselbe Weise Anerkennung. Ich will es mir nicht in einer Schublade bequem machen. ||

LENA GORELIK: MEHR SCHWARZ ALS LILA
Rowohlt, 2017 | 251 Seiten | 19,95 Euro

WORTSPIELE FESTIVAL 17
15.–17. März| Muffatwerk, Club Ampere| Zellstr. 4
Beginn jeweils 20 Uhr | Tages- oder Festivalticket unter
0800 5900594 oder 089 54818181 sowie an der Abendkasse
Lena Gorelik liest am Freitag, 17. März

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